Interview

Angehörige von Alkoholabhängigen Im Strudel der Sucht

Stand: 22.09.2007 16:41 Uhr

1,5 Millionen Menschen in Deutschland sind nach Angaben der Deutschen Hauptstelle für Suchtfragen alkoholkrank. Im Sog der Sucht befinden sich jedoch nicht nur die Alkoholiker selbst. Familienangehörige, Partner und Kinder leiden oft mit. Und unterstützen die Abhängigkeit, ohne es zu wollen.

1,5 Millionen Menschen in Deutschland sind nach Angaben der Deutschen Hauptstelle für Suchtfragen alkoholkrank. Im Sog der Sucht befinden sich jedoch nicht nur die Alkoholiker selbst. Familienangehörige, Partner und Kinder leiden oft mit. Und unterstützen die Abhängigkeit, ohne es zu wollen.

Von Maryam Bonakdar für tagesschau.de

Auf die Idee, dass seine Frau ein Problem mit Alkohol haben könnte, wäre Hartmut G. (Name von der Redaktion geändert) von alleine nie gekommen - bis sich seine Frau aus eigenen Stücken für eine Therapie anmeldete. Da waren vorher keine unkontrollierten Wutausbrüche oder ein zittriges Verlangen nach der Flasche. So zumindest hatte sich der junge Familienvater bis dahin Alkoholismus immer vorgestellt. Nur die sich häufenden alkoholbedingten Ausfälle waren auffällig. Ungewöhnlich fand sie Hartmut G. nicht. Der Stress im Job, die "ganz normale Feier" am Wochenende - Erklärungen für das Verhalten seiner Frau waren immer schnell gefunden. "Heute weiß ich, dass ich mit diesen Entschuldigungen verhindert habe, dass sich meine Frau früher Hilfe gesucht hat."

Auch Angehörige, die sehr wohl um das Alkoholproblem ihres Partners wissen, zeigten oft dieses Verhalten, erklärt der Essener Suchtmediziner Jakob Milkereit. Der Alkoholismus des Alkoholkranken wird kleingeredet, nach außen hin verdeckt, immer wieder entschuldigt und verziehen. "Dadurch bestärkt der Lebenspartner die Abhängigkeit, auch zum Beispiel durch finanzielle Zuwendungen", so Milkereit. "In dieser Phase wollen die Angehörigen nicht wahrhaben, dass der Mann oder die Frau ein Problem mit Alkohol hat." Gründe dafür: Angst vor gesellschaftlichen Sanktionen - und Scham.

Das Gefühl, für die Sucht verantwortlich zu sein

Je weiter der Süchtige in den Strudel des Alkoholismus hineingezogen wird, je unberechenbarer der Umgang mit ihm wird, desto mehr müssen sich die Partner jedoch damit konfrontieren, dass ein Problem vorliegt. Sie versuchen dann häufig, Kontrolle auszuüben, Flaschen zu verstecken oder dem Süchtigen hinterher zu spionieren - ein Vorhaben, das oft die ganze Energie, das ganze Denken der Angehörigen bestimmt. Zumeist jedoch ohne Erfolg: Viele Alkoholkranke blocken die Beschwichtigungsversuche ab und werden aggressiv. Die Folge auf Seiten der Angehörigen: Hilflosigkeit, Schuldgefühle und Selbstvorwürfe, weil es die Betroffenen nicht schaffen, den Partner vom Trinken abzuhalten.

Psychologen bezeichnen dieses Phänomen als "Co-Abhängigkeit". Die betroffenen Angehörigen denken, sie seien für die Sucht des Partners verantwortlich und beginnen, sich selbst aus den Augen zu verlieren und nur noch für den Anderen zu leben. Oft mit schweren psychischen und körperlichen Folgen: von Depressionen bis hin zu körperlichen und nervlichen Zusammenbrüchen. Dieser Prozess ist allerdings ebenso schleichend, wie die Abhängigkeit des Partners. Lange Zeit merken die betroffenen Familienangehörigen nicht, dass und wie sehr sie unter der Sucht leiden. "Ich habe erst gemerkt, welche Last auf mir lag, als ich auf den Anstoß des Therapeuten meiner Frau in eine Selbsthilfegruppe gegangen bin", erzählt Hartmut G., der sich heute selbst für eine solche Gruppe engagiert. Seine Frau war so mit sich selbst beschäftigt, dass sie überhaupt nicht mehr merkte, wie sehr die Situation auch ihn belastete.

Hilfe bei anderen Angehörigen

Nach Angaben von al-anon, einer weltweiten Selbsthilfegemeinschaft für Familien und Freunde von Alkoholikern, kümmern sich allein in Deutschland über 820 Selbsthilfegruppen um Angehörige von Alkoholkranken. Allgemeingültige Rezepte, um sich aus der Co-Abhängigkeit zu lösen, findet man hier jedoch nicht. Vielmehr sollen die Betroffenen im Austausch mit anderen lernen, wieder zu sich selbst zu finden und sich von den eigenen Schuldgefühlen zu befreien. Für Hartmut G. war dies ein wichtiger Schritt. Für den Umgang mit seiner Frau und für seine Ehe. Aber vor allem für ihn selbst.

Entwicklung von Alkoholismus

1. Voralkoholische Phase: Um Stress abzubauen, wird gelegentlich bis häufig zur Flasche gegriffen. Dieses Entlastungstrinken wird mehr und mehr zur Gewohnheit. Der Betroffene entwickelt einen gesteigerten Alkoholbedarf.
2. Einleitungsphase: Die Gedanken des Betroffenen drehen sich zunehmend um Alkohol. Sie beginnen heimlich zu trinken, es werden größere Alkoholvorräte angelegt und notfalls versteckt. Beim Trinken treten vermehrt Schuldgefühle auf. Zunehmende Gedächtnislücken.
3. Kritische Phase: Es kommt zu unkontrolliertem Trinken. Versuche, abstinent zu sein, scheitern. Es werden Ausreden für das Trinken gesucht. Zu beobachten sind Veränderungen in der Persönlichkeit, Verlust von privaten und beruflichen Kontakten. Körperliche Symptome wie Händezittern, Schweißausbrüche und sexuelle Störungen treten auf.
4. Chronische Phase: Es wird alles getrunken, was alkoholisch ist. Tagelange Vollräusche und massive Wahrnehmungsstörungen. Psychosen wie Schizophrenie treten auf. Sehr starke körperliche Abhängigkeit, Angstzustände und sozialer Abstieg.