Studien uneins über Opfer Zahl der Mauertoten bis heute nicht geklärt

Stand: 12.08.2011 18:12 Uhr

Seit mehr als 20 Jahren gibt es die DDR nicht mehr. Trotzdem ist noch immer nicht geklärt, wie viele Menschen an ihrer Grenze zu Tode gekommen sind. 1.613 Todesfälle zählt die neueste Statistik des Berliner "Checkpoint Charlie"-Museums. Andere Stellen gehen von erheblich weniger Toten aus. tagesschau.de erklärt, wie es zu diesen unterschiedlichen Zahlen kommt.

Von Sandra Stalinski für tagesschau.de

Die Angaben schwanken zwischen 274 und 1613 Todesfällen - je nachdem, welche Kriterien greifen. Besonders aktiv in dieser Frage ist die "Arbeitsgemeinschaft 13. August", die das Museum "Haus am Checkpoint Charlie" betreibt. Einmal im Jahr wird hier die Zahl der Todesopfer nach oben korrigiert. Ehrenamtliche Museumsmitarbeiter recherchieren kontinuierlich und gehen jedem Hinweis, jedem Zeitzeugenbericht nach. Dadurch sind allein im vergangenen Jahr 220 Fälle hinzugekommen. Die Quellen sind jedoch zum Teil schwer überprüfbar. 1613 Todesopfer sollen es seit 1945 sein, keine andere Stelle kommt auf eine annähernd so hohe Zahl.

Ein großes Problem bei allen Erhebungen ist die unsichere Quellenlage. Schließlich versuchte die SED-Führung, die Todesfälle zu verschleiern. Vom Westen aus war es hingegen oft schwer zu beurteilen, ob ein Flüchtling tatsächlich zu Tode gekommen ist oder nicht. Versuche einer Bilanz gab und gibt es dennoch seit den 1960er Jahren. Auch die Definition von "Grenzopfern" führt zu Verwirrung. Ist auch ein Unfall an der Grenze, Ertrinken in der Ostsee oder ein Herzinfarkt bei Grenzkontrollen ein Fall für diese Statistik?

"Checkpoint Charlie"-Museum dokumentiert Selbstmorde

Das "Checkpoint Charlie"-Museum rechnet all diese Fälle mit ein. Die Definition von Opfern des Grenzregimes ist hier sehr weit gefasst. Es werden auch Selbstmorde dokumentiert: Menschen, die sich aus Verzweiflung über die Räumung ihres Hauses das Leben nahmen oder ungeklärte Selbstmorde von Grenzsoldaten. Außerdem wurde die Statistik auf weitere Opfergruppen ausgeweitet. So finden sich darin auch sowjetische Fahnenflüchtige oder beispielsweise Doppelagenten, die bei der Flucht verhaftet oder hingerichtet wurden.

Einen sehr viel engeren Opferbegriff hat die "Zentrale Erfassungsstelle der Landesjustizverwaltungen" in Salzgitter, die 1961 ihre Arbeit aufnahm. Als Vorermittlungsstelle der Staatsanwaltschaft im Westen musste sie sich auf teilweise unzuverlässige Quellen und Vermutungen stützen. Sie sollte Fälle erfassen, bei denen der Verdacht einer strafbaren Handlung besteht. Ertrunkene in der Ostsee beispielsweise spielten hier keine Rolle. Ihre Bilanz: 274 Opfer, die durch Schusswaffeneinsatz, Minen und Selbstschussanlagen getötet wurden.

Errichtung der Mauer zwischen Brandenburger Tor und Reichstagsgebäude

20. November 1961: Zwischen dem Brandenburger Tor und dem Reichstagsgebäude wird ein Teil der Berliner Mauer errichtet.

Anschließend begann die westdeutsche "Zentrale Ermittlungsgruppe für Regierungs- und Vereinigungskriminalität" (ZERV) ihre Untersuchungen. Als polizeiliche Ermittlungsbehörde erfasste sie ausschließlich Personen, die "aufgrund einer strafrechtlich verfolgbaren Handlung oder Unterlassung ums Leben gekommen sind". In ihrem letzten Jahresbericht nennt sie eine Zahl von 421 Todesopfern. Personen, die auf der Flucht ohne Fremdverschulden starben, sind nicht vermerkt. Allerdings zählt der Bericht auch Verdachtsfälle auf, bei denen ein strafrechtlich relevantes Handeln lediglich vermutet wurde.

Staatsanwaltschaft spricht von 270 Grenztoten

Die Berliner Staatsanwaltschaft legt 1999 eine sehr viel geringere Zahl von 270 Grenztoten vor. Das liegt daran, dass in dieser Statistik nur solche Fälle auftauchen, die eindeutig mit Gewalt einhergingen. Unbewiesene Verdachtsfälle fielen heraus.

Das Forschungsprojekt "Chronik der Mauer" hat es sich schließlich zur Aufgabe gemacht, all diese Statistiken zu bündeln und mit wissenschaftlichen Methoden zu einer eigenen Bilanz zu kommen. Doch hier wurden ausschließlich die Todesfälle in Berlin untersucht. 136 Maueropfer sind von den Forschern eindeutig belegt. Sie definieren den Begriff Todesopfer sehr viel offener als die Behörden. Voraussetzung ist entweder ein Fluchthintergrund oder ein enger kausaler Zusammenhang mit dem Grenzregime, sowohl räumlich als auch zeitlich. Auch Unfälle werden hier aufgenommen - so zum Beispiel der tragische Fall des türkischen Jungen Cetin Mert, der an seinem fünften Geburtstag in die Spree fiel und ertrank. Weil die Spree an dieser Stelle zu Ost-Berlin gehörte, traute sich kein West-Berliner in das Gewässer, um den Jungen zu retten.

Eine vergleichbare Untersuchung für die gesamte innerdeutsche Grenze hat es bis heute nicht gegeben. Der Antrag für ein Forschungsprojekt liegt dem Kulturstaatsminister Bernd Neumann allerdings vor. Bislang hakt es noch an der Finanzierung.