Interview

Interview zur Hygiene in Krankenhäusern "Viele Infektionen wären vermeidbar"

Stand: 04.11.2011 16:50 Uhr

Multiresistente Keime sind immer mehr ein Problem in deutschen Kliniken. In Bremen starben in den vergangenen Monaten drei Frühchen an einer ESBL (Extended Spectrum Beta-Laktamase)-Infektion. Neben einer besseren Hygiene-Politik brauchen wir vor allem neue Medikamente, sagt Hygiene-Experte Popp im tagesschau.de-Interview.

tagesschau.de: ESBL-Keime - was sind das für Keime, die so gefährlich werden können?

Walter Popp: Bei ESBL-Keimen handelt es sich um Bakterien, in erster Linie Darmkeime wie Escheria Coli. Das sind körpereigene Keime, die wir alle in uns tragen und die gegebenenfalls ein Enzym ausbilden, das Antibiotika unwirksam macht. Das Problem ist, dass es sich hier um zu viele verschiedene Erreger handelt, die auch wieder gegen unterschiedliche Antibiotika resistent sein können und gegen die es zum Teil keine Behandlungsmöglichkeit gibt.

Zur Person "Walter Popp"

Walter Popp ist Arzt für Innere Medizin und Hygiene sowie Leiter der Krankenhaushygiene am Universitätsklinikum Essen und Ärztlicher Leiter der Desinfektorenschule der Feuerwehr Essen. Darüber hinaus ist er Vorstandsmitglied der Deutschen Gesellschaft für Krankenhaushygiene.

tagesschau.de: Und wie häufig kommen diese Keime vor?

Popp: Das wissen wir nicht. Wir wissen nur, dass diese Keime in den letzten Jahren dramatisch zugenommen haben und ein Riesenproblem für die Zukunft werden, weil wir zum Teil gar keine Reserveantibiotika haben. Gegen MRSA-Keime - also multiresistente Staphylokokken, mit denen wir in den vergangenen Jahren zu kämpfen hatten - haben wir inzwischen verschiedene Antibiotika auf dem Markt. Mit denen können wir diese Keime gut behandeln. Diese Chance haben wir bei den ESBL-Keimen jedoch nicht, weil sie quasi gegen die gesamte Antibiotika-Kette resistent sind. Das wird das Hauptproblem für die Zukunft sein, auch europaweit.

tagesschau.de: Lässt sich jede Infektion mit einem Verstoß gegen Hygieneregeln erklären?

Popp: Nein, nicht jede Infektion. Es gibt ja Patienten, die bereits infiziert ins Krankenhaus kommen, weil offene Wunden vorhanden sind. Oder das Beispiel Darm-Operation: da wird der Darm geöffnet und es lässt sich nicht verhindern, dass Darmbakterien in den Bauchraum gelangen. Das sind Situationen, die man nicht allein hygienisch beherrschen kann.

"Bis zu 100 Prozent der Infektionen vermeidbar"

tagesschau.de: Wie viele Krankenhaus-Infektionen wären vermeidbar und warum?

Popp: Wir wissen inzwischen aus neueren Studien aus den Vereinigten Staaten, dass in bestimmten Bereichen bis zu 100 Prozent der Infektionen vermeidbar sind. Beispielsweise Blutbahninfektionen in Folge von Zugängen, die Patienten auf Intensivstationen bekommen. Auch Lungenentzündungen oder Wundinfektionen ließen sich in Krankenhäusern um mindestens 50 Prozent reduzieren - allein durch hygienische Maßnahmen.

Ein Krankenschwester eilt auf einem Flur an einem leeren Bett vorbei

Schätzungen zufolge erkranken jährlich 400.000 bis 600.000 Patienten in Deutschland an Krankenhausinfektionen.

Insofern ist es eine gesellschaftliche Aufgabe für die nächsten Jahre, hier voranzugehen, um alle Krankenhausinfektionen zu verhindern. Das geht natürlich nicht nur durch Hygiene, da brauchen wir auch neue Medikamente, neue Antibiotika und andere Therapien.

"Wir brauchen neue Therapiestrategien"

tagesschau.de: Viele Bakterien sind auch deshalb resistent gegen Antibiotika, weil diese zu häufig oder falsch verschrieben werden. Inwieweit könnten die Verschreibungspraxis der Ärzte und auch die Pharmaindustrie die Bedrohung durch multiresistente Keime denn verringern?

Popp: Die Pharmaindustrie hat in den vergangenen Jahren ja relativ wenig neue Antibiotika auf den Markt gebracht, weil ihnen offensichtlich der finanzielle Gewinn nicht ausreichend erschien und der Forschungsaufwand erheblich ist. Dabei brauchen wir ganz einfach neue Antibiotika und neue Therapiestrategien und da ist natürlich die Industrie gefragt.

Das Verschreibungsverhalten bei den Ärzten kann sicherlich verbessert werden. Wobei Deutschland hier im europäischen Vergleich ganz gut dasteht. Hier und in den Niederlanden werden nämlich relativ wenige Antibiotika verschrieben - während in Griechenland oder anderen südeuropäischen Ländern viel öfter Antibiotika verschrieben werden. Dennoch kann man auch in Deutschland noch viel verbessern. Da kommt es aber auch auf die Eigenverantwortung der Patienten an. Da darf man beispielsweise nicht zum nächsten Arzt gehen, weil der erste nichts verschrieben hat. 

tagesschau.de: Was wären in Ihren Augen wirksame Schutzmaßnahmen für Krankenhäuser?

Popp: Das gibt es mehrere Ebenen. Zuerst einmal muss natürlich die Bedeutung der Hygiene im Bewusstsein der Mitarbeiter verankert sein. Das hat sich sicherlich in den vergangenen Monaten gebessert, nicht zuletzt durch die öffentliche Diskussion über das neue Hygienegesetz. Aber was wir noch brauchen, ist eine verbesserte Ausbildung - die Hygiene ist in der ärztlichen Ausbildung in den letzten Jahrzehnten ja so gut wie eliminiert worden.

Was wir drittens benötigen, ist mehr Hygienefachpersonal im Krankenhaus. Die täglichen Anforderungen steigen, es fehlen aber die Fachkräfte. Darüber hinaus müssen regelmäßig Hygieneschulungen stattfinden. Aber auch dafür mangelt es an personellen Kapazitäten.

"Deutschland kann von anderen Ländern lernen"

tagesschau.de: Das heißt, die Hygiene-Maßnahmen in Deutschland reichen nicht aus. Machen es andere Länder wie zum Beispiel die Niederlande vielleicht besser?

Popp: Im Moment reichen sie nicht aus. Wenn man Deutschland hier in den europaweiten Vergleich stellt, zum Beispiel bei der Infektionsrate auf Intensivstationen oder bei den MRSA-Infektionen, dann liegt Deutschland nur im Mittelfeld. Man kann schon von anderen Ländern lernen, beispielsweise von den Niederlanden. Generell gibt es dort eine landesweite Steuerung und Überwachung der Hygiene. Das äußert sich zum Beispiel darin, dass die Niederlande eine relativ strenge Antibiotika-Politik haben.

Bei uns im Krankenhaus kann jeder Assistenzarzt im Prinzip machen, was er will - es sei denn, im einzelnen Haus ist dies gesondert reglementiert, was meistens nicht der Fall ist. In niederländischen Krankenhäusern gibt es hingegen immer nur ein bis zwei Oberärzte, die Antibiotika freigeben dürfen. Die Niederlande verfolgen im ganzen Land einheitliche Regelungen, auch was ein konsequentes Screening und die Isolierung von Patienten angeht. Ich denke, dass sich das mit dem neuen Gesetz in Deutschland bessern wird.

Das Interview führte Samira Knoke für tagesschau.de.