Interview

Übergriffe in Köln und Hamburg "Sehr schnelle und effektive Masche"

Stand: 05.01.2016 15:56 Uhr

Sexuelle Bedrängung als Ablenkungsmanöver, um Portemonnaie und Handy zu stehlen? Für die Kriminologin Rita Steffes-enn sind die Übergriffe von Köln und Hamburg eine neue Masche. Im Interview mit tagesschau.de erklärt sie, warum diese so effektiv und so gefährlich ist.

tagesschau.de: Die Polizei in Köln beschreibt die Vorfälle als "Straftaten neuer Dimension". Gab es das schon einmal?

Rita Steffes-enn: Diese Zahl von Übergriffen in kurzer Zeit, gekoppelt mit sexuellen Übergriffen und dem Entwenden von Handys oder Portemonnaies ist neu. Mir ist kein Vorfall bekannt, bei dem das bislang so geballt aufgetreten ist. Auch in der Fachliteratur wird das Phänomen in dieser Form nicht besprochen.

Auffällig ist, dass immer mehrere Männer dabei waren, es gab zumindest sexuelle Bedrängung vor dem Diebstahl. Diese Art sexueller Übergriffe ist neu und die Häufigkeit sehr auffallend.

Zur Person

Rita Steffes-enn ist Kriminologin am Zentrum für Kriminologie und Polizeiforschung. Sie hat ihren Forschungsschwerpunkt im Bereich Polizei und Gewalt. Sie arbeitet zudem zu Gewalt- und Sexualtätern. Steffes-enn studierte Kriminologie und Sozialarbeit. Zuvor war sie als Polizeibeamtin in Rheinland-Pfalz tätig.

Übergriff im Schutz der Dunkelheit

tagesschau.de: Was machen sich die Täter zunutze?

Steffes-enn: Sie nutzen die Massenansammlung, die ausgelassene Stimmung. Im Schutz der Dunkelheit und des Partylärms setzen sie ihre Übergriffe. Die Frau ist damit beschäftigt, sich gegen die Übergriffe zu wehren - und genau in dieser Zeit wird sie strategisch beklaut. Aufgrund dieser Kombination gehe ich davon aus, dass das Sexuelle instrumentalisiert wird. Wobei mit Sicherheit unter diesen angezeigten Fälle auch Fälle sind, die sexuell motiviert waren.

tagesschau.de: Ein neuer Trend?

Steffes-enn: Es gibt immer wieder Trends in der Kriminalität. In Hamburg wurden die Frauen nach meinem Kenntnisstand ebenfalls sexuell bedrängt und belästigt. Auch sie haben danach festgestellt, dass ihnen Wertgegenstände entwendet wurden. Das klingt danach, dass das eine Masche ist, die sich gerade etabliert.

Für mich geht das, was wir erlebt haben, in Richtung des sogenannten Antanzens. Dabei werden ebenfalls Personen abgelenkt und bedrängt. Wenn heute junge Menschen in eine Diskothek gehen und miteinander tanzen, bietet das eine Gelegenheit, Taschen zu klauen. In der Regel lenkt eine Person, Mann oder Frau, ab und tanzt jemanden an. Das Opfer ist mit der Interaktion beschäftigt und eine zweite Person klaut die Tasche oder nimmt etwa das Handy.

Die Qualität in Köln ist aber neu. Daraus kann ein neuer Trend in der Kriminalität entstehen. Diese Masche hat Potenzial, weil sie sehr schnell und effektiv zu sein scheint.

"Strategisch und abgesprochen"

tagesschau.de: Wie organisieren sich die Gruppen, die hinter diesem möglichen neuen Trend stehen?

Steffes-enn: Wenn wir davon ausgehen, dass das Motiv für die Übergriffe materiell ist, dann ist das Vorgehen sehr strategisch und abgesprochen. Es ist zu früh zu sagen, die Kriminalität war auf jeden Fall organisiert. Klar ist, die Gruppen schauen sich vorher an, wo und wann gibt es eine gute Gelegenheit und fahren gezielt dorthin.

tagesschau.de: Was bedeutet das für die Opfer?

Steffes-enn: Für die Opfer ist das hochgradig belastend. Das Eine ist, Gegenstände entwendet zu bekommen mit sehr vielen privaten Informationen. Das Andere ist, ich werde Opfer eines sexuellen Übergriffs. Dann habe ich zwei Sachen, die ich verarbeiten muss. Hinzu kommt die mögliche Angst der Opfer, dass die Täter nun vielleicht ihren Ausweis haben, wissen, wo das Opfer wohnt. Sie fragen sich vielleicht, kommt der Täter auch zu mir nach Hause? Da können Ängste hoch kommen, die zusätzlich therapeutisch bearbeitet werden müssen.

tagesschau.de: Wie kann man sich davor schützen?

Steffes-enn: Das ist sehr schwierig. Die Frauen waren nach meinem Kenntnisstand zum Zeitpunkt der Übergriffe stets in einer zahlenmäßig unterlegenen Situation. Wenn eine zahlenmäßige Übermacht an einem lauten Ort ist, reagiert keiner. Wenn ich alleine unterwegs bin, werde ich vermutlich nicht dazwischen gehen, weil mein Risiko hoch ist, selbst Opfer zu werden. Wir als Gesellschaft müssen dennoch versuchen, achtsam zu sein.

Mobile Meldestellen der Polizei als Lösung?

tagesschau.de: Was könnte die Polizei tun?

Steffes-enn: Für die Polizei ist das sehr schwierig. Sie muss wachsam sein. Aber bei so einer Massenansammlung mit Böllern ist es sehr unübersichtlich. Auch die Polizei bekommt nicht alles mit. Eine Chance hat die Polizei: Sie könnte bei Großveranstaltungen mit mobilen Meldestellen an bestimmten Plätzen vor Ort sein. Diese Stellen müssen vorher publik gemacht werden, auch über Apps zu finden sein. Dann gäbe es einen Ansprechpartner direkt vor Ort.

tagesschau.de: Nun heißt es, die Täter hätten überwiegend einen Migrationshintergrund. Teils wird von Flüchtlingen gesprochen ...

Steffes-enn: Wenn von Flüchtlingen gesprochen wird, finde ich das problematisch. Wir können das erst genau sagen, wenn die Täter ermittelt sind. Aus kriminologischer Sicht müssen wir das Kölner Phänomen anschauen und fragen, ob es auch eine Frage von mangelnder Integration und sozialer Teilhabe ist. Handelt es sich bei den Tätern um Menschen, die in bestimmten Stadtteilen leben und auf Reisen gehen? Sind es Clans die sich in Parallelgesellschaften bewegen und sagen, sie machen sich hier ihre eigenen Gesetze? Dann wäre die Qualität eine andere als wenn ich Menschen habe, die arm sind und sich bereichern wollen.

Das Gespräch führte Barbara Schmickler, tagesschau.de.