Studie zur Kinderarmut Arm bleibt arm

Stand: 14.11.2018 15:32 Uhr

Bremerhaven, Gelsenkirchen und Offenbach sind die Spitzenreiter: Hier wachsen besonders viele Kinder in Armut auf. Deutschlandweit wächst laut einer Bertelsmann-Studie die Kinderarmut. Für die meisten der knapp zwei Millionen Betroffenen ist Armut ein Dauerzustand.

Juri-Gagarin-Grundschule, Stendal-Stadtsee - der Namensgeber war der erste Mensch im Weltraum. Hoch hinaus ist er gekommen, für die meisten Schüler hier wird das vermutlich schwierig. Ihre Chancen auf eine große Karriere stehen eher schlecht. Im Zukunftsranking Deutschland belegt der Kreis Stendal Platz 402 - von 402 Teilnehmern. Abgehängt.

Jedes fünfte Kind im Osten ist arm

80 Prozent der Eltern in Stendal-Stadtsee leben in prekären Verhältnissen. Sie haben Niedriglohnjobs, sind langzeitarbeitslos und/oder alleinerziehend. Ein Stadtteil voller Armutsrisiken. Die Kinderarmut ist regional sehr unterschiedlich verteilt, Ostdeutschland besonders betroffen: Dort ist die Quote zwar gesunken - von 24 Prozent im Jahr 2011 auf jetzt 21,6 Prozent. Doch das bedeutet weiterhin, dass mehr als jedes fünfte Kind dort auf staatliche Unterstützung angewiesen ist.

In Westdeutschland stieg die Zahl der armen Kinder leicht an, auf jetzt 13,2 Prozent. Als Gründe für diese großen Unterschiede nennt Anette Stein von der Bertelsmann-Stiftung unter anderem: "In den östlichen Bundesländern ist die Arbeitslosenquote deutlich höher als im Westen und dort gibt es zudem eine höhere Zahl an Alleinerziehenden." Die Lage im Osten habe sich deshalb leicht entspannt, weil dort durch die gute wirtschaftliche Situation wieder mehr Menschen Arbeit gefunden hätten.

Ein Kind sitzt auf dem Boden

In Ostdeutschland ist jedes fünfte Kind auf staatliche Hilfe angewiesen.

Kluft zwischen Ost und West und Stadt und Land

Als arm gelten nach gängiger wissenschaftlicher Definition Haushalte, deren Einkommen weniger als 60 Prozent des sogenannten bedarfsgewichteten mittleren Nettoeinkommens beträgt. Für eine klassische vierköpfige Familie liegt die Grenze derzeit bei knapp 2000 Euro netto pro Monat. 14,7 Prozent der unter 18-Jährigen sind im Bundesdurchschnitt auf Hartz IV angewiesen. Der aktuelle Regelsatz liegt derzeit bei 236 Euro für unter Siebenjährige, 270 Euro für 7- bis 15-Jährige und 306 Euro für 15- bis 18-Jährige. Zum Vergleich: Ein Erwachsener erhält im Moment 404 Euro Unterstützung vom Staat (zuzüglich Wohngeld und Kindergeld, das aber angerechnet wird).

Doch es gibt nicht nur eine Kluft zwischen Ost und West, sondern auch zwischen Stadt und Land. Die höchsten Armutsquoten bei den unter 18-Jährigen gibt es in Städten. Trauriger Spitzenreiter: Bremerhaven mit 40,5 Prozent - das heißt, zwei von fünf Kindern in dieser Stadt wachsen unterhalb oder an der Armutsgrenze auf. Nicht viel besser ist es in Gelsenkirchen (38,5 Prozent) und Offenbach (34,5 Prozent), Halle (33,4 Prozent) und Essen (32,2 Prozent).

Ein Teufelskreis

Besonders betroffen von Armut sind Kinder in zwei Familienkonstellationen: Von allen Minderjährigen in staatlicher Grundsicherung leben die Hälfte bei Alleinerziehenden und 36 Prozent in Familien mit drei oder mehr Kindern. Arme Kinder sind oft ausgeschlossen vom normalen Lebensstandard, sie werden schon früh aus den Lebensbereichen Bildung, Kultur und Sport ausgegrenzt. Je länger Kinder in Armut leben, desto schlechter stehen also ihre Chancen: Sie haben oft kein eigenes Kinderzimmer, keinen Ort für Schularbeiten, essen kaum oder gar kein Obst und Gemüse, konstatiert die Bertelsmann-Studie.

Ein Teufelskreis: Denn im Vergleich mit Kindern in gesicherten Einkommensverhältnissen sind arme Kinder häufiger sozial isoliert. Anette Stein: "Diese Kinder laden keine Freunde zu sich nach Hause ein, weil sie dort keinen Rückzugsort haben. Sie können oftmals nicht an Schulausflügen teilnehmen oder im Sportverein aktiv sein. Dadurch haben sie immer weniger Kontakte zu Gleichaltrigen in ihrer Freizeit."

Probleme beim Zählen, Sprechen, Schneiden, Kleben

Marion Teichert, die Schulleiterin der Juri-Gagarin Grundschule, kümmert sich seit 25 Jahren mit Leib und Seele um die Kinder. Sie bestätigt, dass die andauernde Armut Auswirkungen auf die Entwicklung der Kinder hat. 60 Prozent der Kinder seien anfangs gar nicht schulfähig, weil sie aus sozial schwachen Familien kommen. "Es gibt starke Entwicklungsverzögerungen bei einigen Kindern, die nicht einmal bis zehn zählen können und eingeschult werden. Die ganzen grundlegenden Fähigkeiten, sei es Schneiden, Kleben, das Sprechen im vollständigen Satz, fallen vielen Kindern unglaublich schwer."

Wie rauskommen aus dem Hartz-IV-Karussell?

Nur 60 von 247 Kindern gehen zurzeit mittags zum Schulessen. Vielen Eltern ist das Essen offenbar zu teuer oder der Aufwand zu hoch, einen Gutschein vom Amt zu holen. "Wer einmal in diesem Hartz-IV-Karussell drin ist, kommt da nur sehr schwer wieder heraus", bestätigt Stein. Mehr als die Hälfte der betroffenen Kinder lebt über mehrere Jahre in Armut. Nur 12,5 Prozent der Arbeitslosen und Hilfsbedürftigen schaffen es, dauerhaft wieder aus ihrer Lage herauszukommen. Im Osten ist es noch schwieriger als im Westen.

"Kinder sind keine kleinen Erwachsenen"

Die Grundsicherung für Kinder müsse komplett neu durchdacht werden und sich am tatsächlichen Bedarf von Kindern und Jugendlichen orientieren, fordern daher die Studienleiter der Bertelsmann-Stiftung. "Kinder sind keine kleinen Erwachsenen. Es ist deshalb ein grundsätzlicher Rechenfehler, wenn wir Erwachsene als Grundlage nehmen, um zu bestimmen, was ein Kind für eine typische Kindheit braucht."

Viele Faktoren bestimmten, ob ein Kind gut versorgt aufwachsen könne. Auch aktive Betreuungszeit mit den Eltern, Teilhabe am Kultur- und Sportangeboten spielten eine große Rolle - nicht nur Finanzen. Nur so könne Kinderarmut wirksam bekämpft werden. Für bessere Chancen für Kinder in Deutschland - wie an der Juri-Gagarin-Grundschule in Stendal-Stadtsee.