Ein Kind sitzt auf dem Boden
Interview

Jugendämter starten bundesweite Aktionswochen Weg von der Behörde, hin zum Dienstleister

Stand: 03.05.2011 06:19 Uhr

Zu früh, zu spät, untätig oder überlastet: Jugendämter stehen oft in der Kritik. Im Interview mit tagesschau.de erklärt Heinz Hilgers, Präsident des Deutschen Kinderschutzbundes, warum Jugendämter versagen und wann sie erfolgreich arbeiten. Hilgers verlangt einen Paradigmenwechsel: Weg von der Behörde, hin zum Dienstleistungsunternehmen.

tagesschau.de: Mit bundesweiten Aktionswochen wollen die Jugendämter auf die eigenen Leistungen aufmerksam machen, unterstützt von Familienministerin Kristina Schröder. Das Augenmerk der Öffentlichkeit richtet sich aber mehr auf die Fälle, wo das Jugendamt unter dem Verdacht steht, versagt zu haben: So kam die neunjährige Anna in ihrer Pflegefamilie zu Tode. Haben die Jugendämter also zu Recht ein schlechtes Image?

Heinz Hilgers: Die Jugendhilfe in Deutschland ist sehr unterschiedlich aufgestellt. Die gut ausgestatteten und gut vernetzten Jugendämter arbeiten mit Erfolg und haben auch einen guten Ruf. Diese Ämter sind in ihrer Stadt und in ihrem Kreis als Dienstleistungsunternehmen bekannt und nicht als Behörde verschrien. Auf der anderen Seite sehen wir Jugendämter, die so unter Druck stehen, dass sie gar nicht mehr präventiv arbeiten können. Diese Ämter sind in der Vergangenheit kaputt gespart worden. Sie sind personell schlecht ausgestattet, und sie laufen den Problemen hinterher. Die Mitarbeiter sind fast nur noch in Gefährdungsabschätzungen tätig, und sie haben meistens eine hohe Zahl von Fremd- und Heimunterbringungen. Dadurch steigt der Kostendruck, und die Abwärtsspirale dreht sich weiter.

Zur Person

Seit 1993 ist Heinz Hilgers Präsident des Deutschen Kinderschutzbundes. Dort engagieren sich rund 50.000 Mitglieder für Kinderrechte und gegen Kinderarmut. Hilgers Credo: Kinder sind keine kleinen Erwachsenen! Er selbst kennt als ehemaliger Jugendamtsleiter in Frechen die Arbeit der Jugendhilfe aus der Praxis.

tagesschau.de: Wenn die Ausgangslage so unterschiedlich ist - inwieweit sind bundesweite Aktionswochen dann überhaupt sinnvoll?

Hilgers: Die Kampagne wird sicherlich vor Ort unterschiedlich wirken. Zum Teil werden die Jugendämter dankbar sein. Zur Prävention gehört natürlich auch eine gute Öffentlichkeitsarbeit. Vertrauen bei den Familien herstellen, ist ein wichtiger Prozess. Wo aber der Auftritt des Jugendamtes fast immer mit einer Herausnahme des Kindes endet, da läuft die Kampagne eher ins Leere.

"Soll-Vorschriften in Rechtsansprüche umwandeln"

tagesschau.de: Der einzelne Jugendamtsmitarbeiter steht ja vor einem Dilemma: Handelt er zu früh, reißt er das Kind aus der Familie. Handelt er zu spät, riskiert er womöglich dessen Leben. Lässt sich dieses Dilemma durch eine Imagekampagne lösen?

Hilgers: Nein. Das Dilemma lässt sich nur lösen, wenn das von der Familienministerin geplante Kinderschutzgesetz die beabsichtigten Soll-Vorschriften in Rechtsansprüche der Familien umwandelt. Die Familien, die Schwangeren und die Kinder hätten dann gegen den Jugendhilfeträger Ansprüche auf entsprechende Hilfen. Dann hätte man einen großen Schritt gemacht, denn dann könnten auch frühe Hilfen an- und eingefordert werden. Insgesamt zeigt das Kinderschutzgesetz aber gute Ansätze, wie zum Beispiel die Netzwerke früher Förderung zwischen Gesundheitshilfe, Jugendhilfe und Bildungssystem, bis hin zur Arbeitsverwaltung und zur Polizei. Aber: Ein solches Netzwerk zu knüpfen, liegt eben weiterhin im Ermessen der Kommune. Es besteht keine wirkliche Verpflichtung.

tagesschau.de: Erst im April ist das Vormundschaftsrecht überarbeitet worden. So ist ein Jugendamtsmitarbeiter für weniger Kinder zuständig, muss aber gleichzeitig eine intensivere Betreuung gewährleisten. Bleibt dadurch nicht alles beim Alten?

Hilgers: Nein. Was die Vormünder angeht, ist das ein guter Schritt. Nun wäre ein weiterer guter Schritt, wenn man Höchstfallzahlen für Pflegekinder festlegen würde. Auch da hat es genügend Fälle gegeben, wo Pflegekinder über Monate hinweg von den zuständigen Mitarbeitern nicht gesehen wurden. Auch ein Jugendgerichtshelfer mit mehr als 600 Fällen kann sich nicht intensiv mit einem strafffälligen Jugendlichen auseinander setzen.

"Hilfe in einer Kultur der Wertschätzung"

tagesschau.de: Wann müssen Jugendämter eingreifen? Und welche Möglichkeiten haben sie dann? Welche Möglichkeiten fehlen?

Hilgers: Die Jugendämter arbeiten dann am besten, wenn sie schon in der Schwangerschaft den werdenden Eltern Hilfen in einer Kultur der Wertschätzung anbieten. Sie handeln am erfolgreichsten, wenn sie sofort nach der Geburt am besten alle aufsuchen und allen in großer Wertschätzung Hilfe in einem Babybegrüßungsbesuch anbieten. Wenn es dann nötig ist, kann man dann schon die Erziehungsberatung einleiten, den Elternkurs empfehlen, die Familienhebamme einschalten. Wenn das Jugendamt erst von Dritten aufmerksam gemacht werden muss, ist es immer sehr spät. In dieser Situation blockt die Familie auch ab.

Der Bund wäre gut beraten, den Kommunen eine Anreizfinanzierung zu Verfügung zu stellen, um den Systemwandel voran zu treiben. In der Übergangsphase müssen die Kommunen ja die Prävention leisten, sind aber gleichzeitig durch die hohen Kosten für repressives Eingreifen belastet. Weg also von einem reagierenden System, weg von der Behörde, hin zu einem Dienstleistungsunternehmen. Diesen Anspruch erfüllen schon viele Städte und Gemeinden - aber noch nicht in der notwendigen Anzahl.

tagesschau.de: Sind die Jugendämter auch eine Art Sündenbock, um die gesellschaftlichen Ursachen von Kindesvernachlässigung ignorieren zu können?

Hilgers: Das ist richtig. Wir wissen: Die meisten ärmeren und armen Eltern lieben ihre Kinder genau so wie alle anderen. Viele sparen sich für ihre Kinder das Letzte vom Mund ab. Aber es gibt einen ganz klaren, sozialwissenschaftlich belegten Zusammenhang zwischen Armut und Gewalt und Vernachlässigung. Und die Kinderarmut in Deutschland ist dramatisch angestiegen. Wir haben doppelt so viele arme Kinder wie noch vor gut zehn Jahren und das, obwohl wir viel weniger Kinder haben. Wenn man von Hartz IV lebt, ist der Druck im Kessel hoch. Im Hartz-IV-Satz sind 6,95 Euro enthalten, die den gesamten Hygienebedarf eines Babys im Monat decken sollen: Windeln, Babyöl, Babycreme. Das ist nicht zu schaffen. Und wenn aus Überforderung Verzweiflung wird, dann kann auch sehr schnell Schlimmeres entstehen.

Junge sitzt auf Holzgeländer an einem Spielplatz

Die Zahl armer Kinder in Deutschland wächst.

Das Interview führte Ute Welty, tagesschau.de.