Hintergrund

Islamistenszene in Deutschland Die Gefahr durch die "einsamen Wölfe"

Stand: 29.01.2015 12:18 Uhr

Die Salafistenszene in Deutschland wächst rasant. Vor allem der IS übt eine hohe Anziehungskraft auf junge Männer aus. Für die Behörden ist es schwierig, die islamistische Szene zu überblicken - und genau darin liegt die Gefahr.

Von Sandra Stalinski, tagesschau.de

Es sind einzelne Namen, die die Öffentlichkeit in Deutschland immer wieder aufschrecken lassen. Wie der des 26-jährigen Philip B. aus dem Dinslakener Stadtteil Lohberg. Im August 2014 soll er bei einem Selbstmordattentat im Irak 20 Menschen mit in den Tod gerissen haben. Oder der seines 24-jährigen Cousins Nils D., der sich in Syrien ebenfalls der Dschihadistenmiliz "Islamischer Staat" (IS) angeschlossen haben soll und anschließend nach Deutschland zurückgekehrt ist. Drei Tage nach den Anschlägen von Paris wurde er in Dinslaken verhaftet. Konkrete Hinweise auf Anschlagspläne soll es aber nicht gegeben haben.

35 Rückkehrer sind "tickende Zeitbomben"

Mehr als 600 Islamisten sollen nach Schätzungen des Verfassungsschutzes aus Deutschland in Richtung Syrien und Irak ausgereist sein. Etwa 200 davon sind den Angaben zufolge wieder zurückgekehrt. Und 35 von ihnen sollen Kampferfahrungen gesammelt haben - "tickende Zeitbomben", sagt der Terrorismus-Experte Rolf Tophoven vom Institut für Krisenprävention (IFTUS).

Seit den Anschlägen von Paris seien auch die Sicherheitsbehörden in Deutschland in Alarmbereitschaft, meint Tophoven im Gespräch mit tagesschau.de. Es gab deutschlandweit eine Reihe von Festnahmen und Durchsuchungen: in Berlin, Kassel, Offenbach, Wolfsburg, Mönchengladbach, Herford … Nach wie vor ist offiziell von einer "hohen abstrakten Terrorgefahr" die Rede. Tophoven wird konkreter: Deutschland sei schon länger im Fadenkreuz militanter Islamisten. "Die Frage ist nicht, ob es einen Anschlag in Deutschland geben wird, sondern wann."

Kiefer: "Dunkelziffer liegt höher"

Doch die Islamistenszene in Deutschland ist schwer zu überblicken. Der Verfassungsschutz geht von 7000 Salafisten aus, etwa 1000 schätzt die Behörde als gewaltbereit ein und betont: Bei allen Zahlen handle es sich um Schätzungen. "Die Dunkelziffer dürfte höher liegen", sagt der Islamismus-Experte Michael Kiefer. "Schätzungen sind extrem schwierig, weil die Behörden nur Personen registrieren, die schon einmal aufgefallen sind."

Der Verfassungsschutz legt sein Augenmerk vor allem auf Salafisten, weil die jüngsten Anschläge alle mit der salafistischen Szene in Zusammenhang stünden. Zwar seien nicht alle Salafisten militant, doch Dschihadisten, die in den syrischen Bürgerkrieg reisten, gehörten fast alle diesem Spektrum an. Unklar ist aber, welche Gruppierungen sich hinter den geschätzt 7000 Salafisten verbergen. Wer als Salafist gilt, sei selbst in der Wissenschaft umstritten und auch die Behörden legten ihre Zuordnungskriterien nicht offen, sagt Islamwissenschaftler Kiefer.

"Salafisten berufen sich auf die frühen Gefährten des Propheten Mohammed und deren Nachkommen. Doch die Bewegung ist sehr heterogen. Manche von ihnen lehnen Gewalt und jede Form von Politik ab, andere nicht", so Kiefer. Seit den 2000er Jahren ist der Salafismus die am dynamischsten wachsende Ausprägung des Islamismus. Für 2014 verzeichnen Sicherheitsbehörden einen Zuwachs von 27 Prozent, 2011 gingen die Behörden noch von 3800 Salafisten in Deutschland aus.

Dieses rasante Wachstum erklärt sich Kiefer mit der hohen Anziehungskraft des IS auf junge Männer, die mit diesem Milieu in Kontakt kommen. "Die Ereignisse in Syrien und im Irak hatten sehr großen Einfluss auf die Szene in Deutschland." Insbesondere der Gedanke des Kalifats sei sehr mobilisierend. "Vorher gab es Kämpfe in verschiedenen Regionen der Welt, jetzt gibt es ein Staatswesen in islamischem Stammland."

Zudem seien die Kämpfer der Auffassung, sie befänden sich im Endkampf. Denn eine 1300 Jahre alte apokalyptische Prophezeiung, die auf den Propheten selbst zurückgehen soll, besagt, dass eine "Armee der Gerechten" bei der syrischen Stadt Dabiq eine historische Schlacht schlagen werde, erklärt Kiefer gegenüber tagesschau.de. Von dort werde die Eroberung der Welt stattfinden. In der Tat hat der IS vor einigen Monaten die syrische Stadt Dabiq eingenommen. Das werde jetzt als Propaganda genutzt.

Viele Wege der Radikalisierung

Momentan sei bei Rekrutierungen in der Islamistenszene fast immer der IS, beziehungsweise Syrien und Irak das Ziel, sagt auch der Islam- und Politikwissenschaftler Thorsten Gerald Schneiders - obwohl nach wie vor auch Verbindungen zu Al Kaida oder den Taliban bestünden. Eine Studie des International Centre for the Study of Radicalisation am King’s College in London berichtet zudem, dass Dschihadisten aus Deutschland sich auch der Gruppierung "Junud al Sham" (Soldaten Syriens) anschlössen.

Doch wie radikalisieren sich diese Dschihadisten? Wie kommen sie in Kontakt mit den militanten Gruppen? "Da gibt es viele Wege", sagt Schneiders: in Schulen, Vereinen, bei Hausaufgabenhilfen und natürlich in Sozialen Netzwerken. Dort würden die "Rattenfänger" zunächst Vertrauen aufbauen, ganz unverfänglich Kontakte knüpfen, ohne das Wort Islam zu erwähnen. "Nach und nach sprechen sie dann mal ein wenig über Religion, dann über Politik. Und wenn sie merken, ein Jugendlicher zeigt sich empfänglich, gehen sie weiter." Dann würden Videos ausgetauscht, Treffen organisiert, womöglich Kontakte zu Rückkehrern organisiert. Irgendwann seien die zumeist jungen Männer dann auf dem Weg zur syrischen Grenze. "Dieser Prozess dauert unter Umständen nur wenige Wochen."

Hohe Gefahr durch "einsame Wölfe"

Wie genau die Szene sich organisiert, lässt sich schwer sagen. "Es handelt sich um viele kleine, voneinander weitgehend unabhängige Zellen", meint Schneiders. Eine militante Gruppierung wie die in Dinslaken habe mit den anderen Zellen in Deutschland meist nichts zu tun. "Oft gibt es in einer lokalen Gruppierung ein oder zwei Leute, die Kontakte nach Syrien oder zu wichtigen Mittelsmännern haben, die anderen laufen mit."

Manchmal finde ein Erstkontakt über salafistische Moscheen oder bei einer Koranverteilaktion statt, sagt eine Sprecherin des Verfassungsschutzes. Doch die tatsächliche Radikalisierung spiele sich meist fernab von Moscheegemeinden ab, meint der Islamismus-Experte Kiefer - schon allein, um von den Behörden nicht entdeckt zu werden. "Es gibt aber auch Einzelne, die sich zu Hause im stillen Kämmerlein radikalisieren, ohne je mit anderen Islamisten in Kontakt zu kommen", sagt Schneiders. Diese sogenannten "Lone Offender" oder "einsamen Wölfe" beziehungsweise militante Kleinstgruppen seien wohl am gefährlichsten, weil sie unter dem Radar der Behörden durchtauchten. "Falls so jemand einen Anschlag verübt, ist das wie ein Amoklauf. Das kann man kaum vorhersehen."