Interview

Arme Kinder in Deutschland oft ohne Perspektive "Ich will Hartz-IV-Empfänger werden"

Stand: 15.10.2008 09:57 Uhr

Mehr Kindergeld - damit will das Kabinett Familien stärker entlasten. Doch wird mehr Geld pro Kind die Situation in bedürftigen Familien wirklich verbessern? Der Gründer des Kinderprojekts "Arche", Bernd Siggelkow, bezweifelt das. Bildung sei die einzige Chance für sozial benachteiligte Kinder, sagte er im Gespräch mit tagesschau.de.

Mehr Kindergeld und ein höherer Kinderfreibetrag - damit will das Kabinett Familien stärker entlasten. Doch wird mehr Geld pro Kind die Situation in bedürftigen Familien wirklich verbessern? Der Gründer des Kinderprojekts "Arche", Bernd Siggelkow, bezweifelt das. Bildung sei die einzige Chance, sozial benachteiligten Kindern eine Perspektive zu geben, sagt er im Gespräch mit tagesschau.de. Ansonsten bliebe ein häufiger Berufswunsch bittere Realität: "Ich will Hartz-IV-Empfänger werden."

tagesschau.de: In Zukunft soll es zehn Euro mehr Kindergeld geben. Ist das gerade für bedürftige Kinder hilfreich oder eher ein Trostpflaster?

Bernd Siggelkow: Zehn Euro sind ein kleiner Tropfen auf den heißen Stein, denn die Lebenshaltungskosten steigen ständig. Zehn Euro sind 30 Cent pro Tag, und das gleicht gerade mal die erhöhten Milchpreise aus. Es ist nicht sinnvoll, zehn Euro in die Familien zu geben. Wir sollten das Geld lieber ins Bildungswesen investieren, damit die Kinder etwas davon haben.

tagesschau.de: Da hauen Sie in die gleiche Kerbe wie die OECD: Deutschland solle zukünftig weniger Geld direkt an Familien zahlen und dafür mehr in Kinderbetreuung stecken.

Zur Person

Bernd Siggelkow ist Pastor und Gründer des Kinderprojekts "Arche". Der Verein kümmert sich in Berlin, Hamburg und München um sozial benachteiligte Kinder.

Siggelkow: Wir geben in Deutschland zu wenig Geld für Bildung aus und das trifft vor allem die Kinder, die von ihren Eltern nicht gefördert werden. Entweder weil die Eltern es nicht können oder es vielleicht auch nicht wollen. Diese Kinder bleiben auf der Strecke. Wir können uns dauerhaft keine Kinder in unserem Land leisten, die nicht zu Fachkräften werden, denn die werden wir in zehn oder zwanzig Jahren dringend brauchen.

tagesschau.de: Es ist also sinnlos, das Geld im Gießkannenprinzip auf alle Kinder zu verteilen - egal ob sie Millionärskinder sind oder arm?

Siggelkow: Alle Kinder in Deutschland bekommen Kindergeld, aber nicht alle brauchen es wirklich. Familien mit mehr Geld geben das Kindergeld womöglich dafür aus, ihre Kinder auf Privatschulen zu schicken. Man könnte das Geld aber vermutlich besser in öffentliche Schulen stecken.

"Ein System schaffen, von dem Eltern und Kinder profitieren"

tagesschau.de: Was müsste die Politik Ihrer Meinung nach tun?

Siggelkow: Unsere Familienpolitik müsste sich ganz einfach an der Familie und ihren Bedürfnissen orientieren. Und auf keinen Fall sollte man mit solchen Argumenten hantieren, wie: Wir haben Eltern, die sich nicht mehr um die Kinder kümmern können - also fördern wir nur die Kinder. Vielmehr müssen wir ein System schaffen, von dem Eltern und Kinder profitieren. Früher oder später werden Eltern oder Kinder auf die Straße gehen, weil sie einfach nicht mehr die Mittel haben, die sie zum Überleben brauchen.

tagesschau.de: Aber die Bundesregierung bemüht sich mit dem sogenannten Schulbedarfspaket ja gerade darum, Hartz-IV-Haushalte zu unterstützen.

Siggelkow: Dieses Paket ist ein Witz. Letztendlich werden für Hartz-IV-Empfänger nur die Schulbücher bezahlt. Da sind nicht mal überall die Arbeitshefte mit drin. Und dann kommt das Arbeitsmaterial hinzu. Im Übrigen wird das Kindergeld mit dem Hartz-IV-Geld verrechnet, so dass den Eltern von der Erhöhung nicht viel übrig bleibt.

tagesschau.de: Immer mehr Experten setzen auf Sachmittel statt Geldleistungen. Würden beispielsweise Gutscheinsysteme etwa für kostenlose Lernmittel, Nachhilfe, Schulessen oder Vereinsmitgliedschaften Sinn machen?

Hintergrund

Ziel des Vereins "Die Arche – Christliches Kinder- und Jugendwerk e. V." ist es, Kinder von der Straße zu holen und ihnen sinnvolle Freizeitmöglichkeiten zu bieten. Das Hilfswerk betreibt mittlerweile auch Kindertagesstätten in Hamburg und München. Andere Städte sollen in Zukunft dazu kommen. Die Arbeit der Arche beinhaltet das Angebot eines kostenlosen Mittagessens, individuelle Begleitung der Kinder einschließlich ihrer Familien, Hausaufgabenhilfe sowie das Angebot der Vermittlung des christlichen Glaubens.

Siggelkow: Ich halte nicht viel von Gutscheinen, weil es immer noch viele Leute gibt, die sich gar nicht outen. Entweder, weil sie zu stolz sind oder weil sie Angst vor Ausgrenzung haben. Ich bin dafür, dass es die gleichen Möglichkeiten für Kinder gibt. Egal, aus welcher Schicht sie kommen. Und deshalb soll Schulmittelfreiheit und freies Schulessen nicht nur subventioniert werden, sondern das ganze Schulwesen muss kostenlos sein - wie beispielsweise in Skandinavien - damit es alle erreicht.

"Unsere Kinder brauchen Perspektiven"

tagesschau.de: Gesetzt den Fall, wir hätten skandinavische Verhältnisse - also zum Beispiel freie Kindergärten und Schulen. Würde das wirklich den sozial benachteiligten Kindern zugute kommen?

Siggelkow: Was soll sonst helfen, Kinder mit schwachem sozialen Umfeld zu fördern? Das ist doch nur die Bildung. Unsere Kinder brauchen Perspektiven. Wir haben die von uns betreuten Kinder mal gefragt, was sie später werden wollen. Der größte Teil hat geantwortet: "Ich will Hartz-IV-Empfänger werden." Und das nicht nur, weil ihre Eltern ihre Vorbilder sind, sondern weil sie wissen, sie haben keine anderen Chancen. Die zweite Gruppe wollte Arche-Mitarbeiter werden und die dritte Popstars. Die Wahrscheinlichkeit, dass sie Hartz-IV-Empfänger werden, ist am größten.

Das Interview führte Judith Hinrichs, tagesschau.de