Interview

Interview zum Streit über Flüchtlinge "Grenzkontrollen verhindern nicht die Einreise"

Stand: 12.04.2011 18:38 Uhr

Zum Ärger der EU-Partner stellt Italien Flüchtlingen Kurzzeit-Visa aus. Doch damit könnten sie im Schengen-Gebiet nicht frei reisen, sagt der Europarechts-Experte Daniel Thym im Interview mit tagesschau.de. Dafür, aber auch für die umfassende Wiedereinführung der Grenzkontrollen fehle die rechtliche Grundlage.

tagesschau.de: Italien stellt Flüchtlingen aus Tunesien vorübergehende Aufenthaltsgenehmigungen aus, mit denen die Weiterreise in andere EU-Länder ermöglicht würde. Verstößt das Land damit gegen das Schengen-Abkommen, wie es andere EU-Länder Italien vorwerfen?

Daniel Thym: Rechtlich ist Italien durchaus dafür zuständig, diese Aufenthaltstitel für humanitäre Zwecke zu erteilen. Allerdings gelten diese dann nur für Italien. Das heißt, die anderen Mitgliedsstaaten sind nicht verpflichtet, den betroffenen Ausländern die Weiterreise in das Staatsgebiet ohne Weiteres zu erlauben.

Zur Person

Daniel Thym lehrt als Professor für Öffentliches Recht mit den Schwerpunkten Europa- und Völkerrecht an der Universität Konstanz. Er ist zudem Kodirektor des Forschungszentrums Ausländer- und Asylrecht an der Universität Konstanz.

tagesschau.de: Das heißt, wenn die österreichische Innenministerin Maria Fekter sagt, sie werde prüfen, inwiefern das italienische Visum tatsächlich anerkannt werde, bezieht sie sich auf diese Rechtsgrundlage?

Thym: Die rechtlichen Regeln, niedergelegt in den Artikeln 18 und 21 des Schengener Übereinkommens, wurden erst im Jahre 2010 angepasst. Damals hat man sichergestellt, dass solche nationalen Visa nicht automatisch für das gesamte Schengen-Gebiet gelten. Die anderen Mitgliedsstaaten bleiben also berechtigt, die Einreise unter bestimmten Umständen zu verweigern, etwa wenn die betroffene Person nicht über hinreichend Geld verfügt.

tagesschau.de: Was bringt denn dann überhaupt die als Drohung wahrgenommene Ankündigung Italiens, Kurzzeit-Aufenthaltsgenehmigungen auszustellen?  

Thym: Das ist eine politische Drohung. Österreich und Deutschland haben die zwar die Befugnis, die Leute nicht einreisen zu lassen, können aber dieses Recht tatsächlich schwer durchsetzen. Und das weiß Italien. Dadurch dass die Grenzkontrollen abgeschafft sind, können Österreich und Deutschland faktisch wenig unternehmen.

tagesschau.de: Würde damit der Umgang mit dem Problem an die Kontrolleure delegiert, die an der Grenze entscheiden müssten, ob sie jemand mit dem italienischen Aufenthaltspapier einreisen lassen oder zurückschicken?

Thym: Damit unterstellen Sie, dass die Grenzkontrollen wieder eingeführt sind.

tagesschau.de: An einigen Grenzen zwischen Schengen-Staaten gibt es ja durchaus Personenkontrollen.

Thym: Aber nur partiell. Es gibt derzeit keine systematischen Kontrollen. Denn die Grundidee von Schengen ist, dass die Außengrenzen effektiv kontrolliert werden und die Menschen innerhalb der Schengen-Region frei reisen können.

tagesschau.de: Also ist die Reaktion des deutschen Innenministers Friedrich konsequent, die Binnen-Grenzkontrollen zu verstärken, wenn Italien die Kurzaufenthaltsvisa ausstellt?

Thym: Die Wiedereinführung von Grenzkontrollen unterliegt sehr strengen Regelungen, die wahrscheinlich in der jetzigen Situation nicht vorliegen.

tagesschau.de: Welche Voraussetzungen müssten dafür gegeben sein?

Thym: Ein Beispiel wären Terroranschläge oder deren Verhinderung im Falle großer politischer Treffen wie zum Beispiel G-8-Gipfel.

Wiedereinführung der Grenzkontrollen nur im Ausnahmefall

tagesschau.de: Das heißt, dass Innenminister Friedrich gar keine rechtliche Grundlage für seine Ankündigung hat, vorsichtshalber die Kontrollen an den Grenzen innerhalb des Schengenraums zu verschärfen?

Thym: Für eine umfassende Wiedereinführung der Grenzkontrollen müsste eine schwerwiegende Bedrohung der öffentlichen Ordnung oder inneren Sicherheit gegeben sein. Dies gilt jedenfalls für Fälle, in denen an jedem Grenzübergang wieder Beamte stehen. Doch selbst mit Grenzkontrollen könnte man die Einreise nicht immer verhindern, weil ja die Grenzzäune abgebaut sind. Ich wohne in Konstanz, da verlaufen die Grenzen zur Schweiz teils durch den Wald und die Bundespolizei hätte gar nicht die Ausrüstung vor Ort, die illegale Grenzüberschreitung von heute auf morgen umfassend zu verhindern.

tagesschau.de: Der italienische Innenminister war ja sehr empört darüber, dass die anderen EU-Staaten aus seiner Sicht Italien die Solidarität bei der Bewältigung des Flüchtlingsandrangs aus Nordafrika verweigerten. Handelt es sich denn um ein nationales oder um ein europäisches Problem?

Thym: Recht haben alle Beteiligten, wenn sie auf Solidarität pochen. Ebenso wie die Währungsunion kann der Schengen-Raum nur funktionieren, wenn die Mitgliedstaaten zur solidarischen Zusammenarbeit bereit sind. Doch Solidarität ist keine Einbahnstraße, sondern verlangt auch von Italien die Bereitschaft an einer gemeinschaftlichen Lösung mitzuarbeiten. Die einseitige Vergabe von Aufenthaltstiteln ohne vorherige Abstimmung ist sicher nicht solidarisch.

"Solidarität ist keine Einbahnstraße"

tagesschau.de: Italien argumentiert ja, dass die Zahl der Flüchtlinge eine einzelne Nation überfordere.

Thym: Bei den aktuellen Zahl kann man davon ausgehen, dass ein Land von der Größe Italiens damit eigenständig zurechtkommen kann. Das Problem ist natürlich, dass in naher Zukunft noch sehr viel mehr Wirtschaftsflüchtlinge kommen können - und der Umstand, dass Italien illegalen Einwanderern einen Aufenthaltstitel in Aussicht stellt, könnte sogar ein Anreiz darstellen, dass mehr Personen die gefährliche Überfahrt über das Mittelmeer wagen.

tagesschau.de: Gibt es Vorgehensweisen, die sie vorschlagen?

Thym: Langfristig muss die Lastenverteilung innerhalb der Europäischen Union besser organisiert werden, das heißt die Verteilung von Flüchtlingen, aber auch die gemeinsame Kontrolle von Außengrenzen oder die gemeinsame Organisation von Rückführungsflügen. Zudem muss man darüber nachdenken, wie man mit den Herkunfts- und Transitstaaten zusammenarbeitet, um durch wirtschaftliche Maßnahmen vor Ort und die Kooperationen beim Grenzschutz zu erreichen, dass weniger Flüchtlinge nach Europa kommen.

Das Interview führte Nea Matzen, tagesschau.de