Interview

Staatsrechtler zum Ja des Bundestags zu Griechenland-Hilfen "Die Abgeordneten rennen immer nur hinterher"

Stand: 30.11.2012 17:10 Uhr

Zeit ist Geld. Besonders dann, wenn es um Griechenland geht. "Abstimmungen im Schnellverfahren sind zwar notwendig", meint Staatsrechtler Battis gegenüber tagesschau.de. Das Parlament werde aber entmachtet: "Denn die Regierung hat die Entscheidung immer schon getroffen - wie bei Hase und Igel."

tagesschau.de: Die Abgeordneten hatten ungefähr 48 Stunden, um sich vor der Abstimmung mit den Details des neuen Hilfspakets vertraut zu machen. Glauben Sie, die Volksvertreter haben verstanden, worüber sie da abstimmen?

Ulrich Battis: Die Abgeordneten befassen sich jetzt schon seit Jahren mit der Euro-Krise. Zumindest diejenigen im Haushalts- beziehungsweise Finanzausschuss sind gut im Stoff und können auch die Risiken einigermaßen einschätzen. Sie sind höchst qualifiziert, da kann man wirklich nur den Hut ziehen. Natürlich weiß in der Euro-Krise niemand ganz genau, wohin die Reise geht. Aber den Experten ist auch klar, dass sie diesen Weitblick nicht haben.

Zur Person

Ulrich Battis ist emeritierter Jura-Professor der Humboldt-Universität Berlin. Dort lehrte er seit 1993 Staats- und Verwaltungsrecht. Battis studierte in Münster, Berlin, Tübingen und Speyer, lehrte von 1974 an der Universität Hamburg und war von 1984 bis 1993 Rektor der Fernuniversität Hagen.

"Eine Expertokratie wäre undemokratisch"

tagesschau.de: Aber wenn nur noch wenige Bescheid wissen, worum es eigentlich geht, kann das Parlament dann noch seine Aufgabe - vor allem auch die der Kontrolle - erfüllen?

Battis: Das denke ich schon. Parlamentarische Arbeit beruht ja darauf, dass es für alle Fragen Experten gibt und zwar aus den unterschiedlichen Fraktionen. Die verstehen eine Menge von der Materie. Aber das heißt natürlich nicht, dass sie einer Meinung sind. Aber sie diskutieren und kommen zu einer Lösung. Die anderen Abgeordneten verlassen sich mehr oder weniger auf die Expertise ihrer Fraktionskollegen. So ist das parlamentarische Verfahren.

Man sollte solche Entscheidungen aber auch nicht nur Ökonomen oder externen Experten überlassen. Die sind ja auch nie einer Meinung. Und selbst wenn sie es wären, haben sie auch Eigeninteressen. Zudem ist das einfach nicht ihre Aufgabe. Der Bundestag hingegen trifft auf Basis verschiedener Fachurteile eine politische Entscheidung und übernimmt dafür auch die politische Verantwortung. Alles andere wäre undemokratisch. Dann hätten wir eine Expertokratie und keine Demokratie.

tagesschau.de: Es gibt aber auch Beispiele, wo genau dieses Verfahren nicht funktioniert hat, wie beim Melderecht. Da hat eine Handvoll Abgeordneter ein Gesetz durchgewunken, das indiskutabel war.

Battis: Pannen kann es immer geben. Nämlich dann, wenn die Abgeordneten blind der Meinung ihrer Fraktions-Experten hinterherrennen. Beim Melderecht war das so. Das ist aber kein grundsätzlicher Einwand. In der Regel halten die Abgeordneten die Augen offen.

"Bei Entscheidungen zu Krediten gilt: Zeit ist Geld"

tagesschau.de: Findet nicht eine schleichende Entmachtung des Parlaments statt, wenn die Volksvertreter immer öfter Entscheidungen im Schnellverfahren treffen müssen?

Battis: Zunächst mal muss man sehen, dass es hier um Kredite geht. Das muss nunmal sehr schnell gehen: Zeit ist Geld. Aber es stimmt schon, dass das Parlament dadurch an Einfluss verliert. Das ist ja auch der Grundtenor der Urteile des Bundesverfassungsgerichts seit Jahren. Das Gericht hat den Bundestag - wie eine Gouvernante ein ungezogenes Kind - immer wieder daran erinnert, seine Rechte besser wahrzunehmen. Sehr zum Ärger der Regierung, die es ja viel bequemer hätte, wenn das Gericht das nicht immer anmahnte. Zuletzt ist das beim Urteil zum ESM geschehen.

Aber letztlich geht es dabei um Verfahrensfragen. Das parlamentarische Verfahren dient dazu, die Dinge zu erörtern und mehr Öffentlichkeit zu schaffen. Auf das Abstimmungsverhalten hat die Debatte im Parlament in der Regel keinen Einfluss, das steht vorher schon fest.

tagesschau.de: Was bedeutet das für die Zukunft der parlamentarischen Demokratie, wenn die Abgeordneten wichtige Entscheidungen nur noch abnicken können?

Battis: Es gibt in der Tat ein Demokratiedefizit in Europa. Das Europäische Parlament wird zwar sukzessive aufgewertet, aber es hat längst nicht die gleichen Kompetenzen wie die nationalen Parlamente. Das ist sehr heikel, weil es so die Kontrollfunktion nicht hinreichend ausüben kann. Die nationalen Parlamente wiederum haben die Kompetenzen, können sie aber nur sehr bedingt ausüben, weil Entscheidungen "alternativlos" sind oder sehr schnell gehen müssen. Da hat die Regierung nunmal eine stärkere Stellung. Sie hat zu verhandeln, die Abgeordneten haben zu kontrollieren und abzustimmen. Das ist wie bei Hase und Igel, die Abgeordneten rennen immer nur hinterher und der Igel, also die Regierung, ist immer schon da. Das ist ein Dilemma.

Natürlich kann dieses Aushandlungsmandat der Bundesregierung auch begrenzt werden. Das ist ja beim ESM-Urteil auch geschehen. Da wurden Rahmenbedingungen festgelegt, die die Regierung nicht umgehen darf, ohne erneut das Parlament zu fragen. Auf der anderen Seite gibt es Bereiche, in denen die Kompetenzen des Bundestags zugenommen haben, beispielsweise bei Abstimmungen über Auslandseinsätze der Bundeswehr.

"Die einzige Alternative wäre der Sturz der Kanzlerin"

tagesschau.de: Was wäre eine Alternative für mehr Beteiligung des Parlaments bei so komplexen Sachverhalten wie der Griechenland-Hilfe?

Battis: Der Bundestag könnte sich mehr Zeit lassen. Da könnte er sich das Bundesverfassungsgericht als Vorbild nehmen. Bei den Eilanträgen gegen den ESM hat es sich selbstbewusst drei Monate Zeit gelassen. Da ist die Welt auch nicht untergegangen. Normalerweise wird ein Eilantrag in Stunden oder wenigen Tagen entschieden. Der Bundestag könnte sich das auch herausnehmen und sagen, "wir brauchen mehr Zeit". Da hätte er das Bundesverfassungsgericht im Rücken.

tagesschau.de: Das ist in diesem Fall nicht passiert. Welchen Handlungsspielraum haben die Abgeordneten noch, wenn sie mit diesen schnellen Verfahren nicht einverstanden sind?

Battis: Für die Opposition ist es sicher eine Alternative mit Nein zu stimmen. Zu sagen, "wir sind grundsätzlich dafür, aber wir haben hier noch Klärungsbedarf". Wenn aber die Abgeordneten der Regierungsparteien nicht einverstanden sind, bleibt letztlich nur eine Möglichkeit: die Vertrauensfrage. Dann hat die Kanzlerin entweder die Mehrheit im Parlament oder sie wird gestürzt. Aber so etwas ist extrem unwahrscheinlich.

Das Interview führte Sandra Stalinski, tagesschau.de

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete die tagesschau am 30. November 2012 um 20:00 Uhr.