Interview

Interview mit Seyran Ates zum Nationalen Integrationsplan "Die Politik erwacht langsam aus dem Dornröschenschlaf"

Stand: 08.11.2007 17:00 Uhr

Seyran Ates ist Rechtsanwältin, Frauenrechtlerin und Autorin. Seit Jahren setzt sie sich für eine bessere Integration von Migranten ein. tagesschau.de sprach mit Ates über muslimische Parallelwelten, konservative Verbände und den Nationalen Integrationsplan der Bundesregierung.

Seyran Ates ist Rechtsanwältin, Frauenrechtlerin und Autorin. Seit Jahren setzt sie sich für eine bessere Integration von Migranten ein. tagesschau.de sprach mit Ates über muslimische Parallelwelten, konservative Verbände und den Nationalen Integrationsplan der Bundesregierung.

tagesschau.de: Die Integrationsbeauftragte der Bundesregierung, die CDU-Politikerin Maria Böhmer, ist zufrieden mit der Umsetzung des Nationalen Integrationsplans. Im Bundestag sagte sie, sie sehe "klare Fortschritte" bei der Integration. Sehen Sie die auch?

Seyran Ates: Ich sehe die Fortschritte, auch wenn sie klein sind und ich mir größere Schritte wünschen würde. Wir hatten letztes Jahr mit dem Integrationsgipfel tatsächlich ein einschneidendes Ereignis: Sowohl die Politik als auch die Wirtschaft haben mit 'den Migranten' an einem Tisch gesessen. Das war einmalig – ein kleiner, aber symbolisch doch großer Schritt in die richtige Richtung.

tagesschau.de: Böhmer sprach auch von einer "Aufbruchstimmung". Spüren Sie davon etwas?

Ates: Ja, wir haben eine Aufbruchstimmung ausgelöst. Die Politik hat für sich viele Erkenntnisse gewonnen und erwacht langsam aus ihrem Dornröschenschlaf. Letztlich hinkt die Politik der Gesellschaft aber noch immer hinterher, die ist schon wesentlich wacher.

tagesschau.de: Das klingt sehr zuversichtlich.

Ates: Auf der anderen Seite gibt es aber auch muslimische konservative Kräfte, die sagen: Achtung, aufgepasst! Da will uns jemand unsere Parallelwelt nehmen. Und auch die fremdenfeindlichen Menschen sehen, dass die multikulturelle Gesellschaft Realität ist. Sie beobachten nun mit Argwohn, dass Bemühungen vorhanden sind, Deutschland zu einer Einwanderungsgesellschaft zu formen. Man muss also wachsam bleiben.

tagesschau.de: Wie sieht es denn mit der Umsetzung der Integrationspolitik im Alltag aus?

Ates: Ich bin 1969 nach Deutschland gekommen und wurde ein Leben lang als Ausländerin wahrgenommen – und zwar von allen Seiten. Jetzt bin ich wirklich froh, dass es diese Debatte überhaupt gibt. Auch wenn ich die Umsetzung mit kritischem Blick beobachte. Denn der Nationale Integrationsplan beinhaltet im Grunde genommen nichts Neues. Kluge Menschen aus Wissenschaft und Politik haben all das, was da drin steht, schon vor mehr als 30 Jahren gefordert. Nun hoffe, ich dass es die Politik jetzt wirklich ernst meint. Wir werden jetzt sicher keine riesigen Schritte machen, das wird sehr langsam gehen. Aber es geht endlich voran, und das stimmt mich zuversichtlich.

tagesschau.de: Sie setzen sich vor allem für Frauenrechte ein, wie würden sie die Situationen von Migrantinnen derzeit beurteilen?

Ates: Viele muslimische Frauen leben noch immer in einer archaischen Parallelwelt, wo Strukturen herrschen, wie wir sie aus dem Mittelalter kennen. Nicht umsonst haben wir heute noch Jugendliche, die von einem Ehrbegriff sprechen, der sie dazu bringen würde, einen Ehrenmord zu begehen. Für viele muslimische Jugendliche in Deutschland ist es beispielsweise auch ganz normal, dass die Mädchen zuhause bleiben müssen.

tagesschau.de: Lässt sich das quantifizieren? Wie viele Migranten leben in dieser von ihnen skizzierten Parallelgesellschaft?

Ates: Dazu gibt es keine Studien. Aber nach meinem Empfinden leben in dieser Parallelgesellschaft zumindest etwa 80 Prozent derjenigen Menschen, die aus der Türkei nach Deutschland kamen. Die sind hier nie richtig angekommen - und das kann sich auch auf die nachfolgende Generation übertragen. Ihr Alltag ist geprägt von der Vorstellung, dass sie nicht wirklich hier in diesem Land leben. Sie fühlen sich nicht zugehörig, Deutschland ist nicht ihr Heimatland. Ich denke, dass nur etwa 20 Prozent der Menschen wirklich hier angekommen sind und sagen: Ja, das hier ist meine Heimat.

tagesschau.de: Würden sie das von sich sagen?

Ates: Ja, ich bin sehr neugierig und offen für andere Kulturen, ich bin in Deutschland angekommen, weil ich mich für Deutschland entschieden habe. Aber selbst ich bin noch nicht vollständig integriert. Ich werde heute noch von vielen Deutschen mit der Frage konfrontiert, wann ich denn gedenke, in mein Heimatland zu meinen Landsleuten zurückzukehren. Dabei habe ich die deutsche Staatsangehörigkeit. Meine Landsleute leben hier.

tagesschau.de: Wo sehen Sie die größten Baustellen, den größten Nachholbedarf in der Integrationspolitik?

Ates: Die Auflösung der Parallelgesellschaft wird davon abhängen, ob wir es schaffen, den Menschen, die dort leben, eine gute Bildung mit auf den Weg zu geben. Nur wenn sie einen Beruf erlernen und ausüben können, schaffen wir die Voraussetzung für echte Integration. Zum Zweiten muss Deutsch als gemeinsame Sprache von diesem Menschen gesprochen werden. Wir müssen dafür Sorge tragen, dass die Kinder schon im Kindergarten entsprechend gefördert werden. Jetzt aber ältere Menschen, die seit 30, 40 Jahren im Land sind, dazu zwingen, deutsch zu lernen, wäre falsch und unfair.

tagesschau.de: Zu einer gelungenen Integration gehören immer zwei Seiten. Wie sieht es denn mit dem Integrationswillen vor allem muslimischer Verbände aus, von denen viele als konservativ gelten?

Ates: Die allermeisten Verbände haben mit dazu beigetragen, dass sich eine Parallelgesellschaft gebildet hat, die in Abgrenzung zur Mehrheitsgesellschaft existiert. Es wurde und wird zum Teil noch immer ein extremer Kultur-Chauvinismus betrieben. Noch immer haben dort die konservativen Hardliner das Sagen. Junge Menschen mit neuen Ideen und Meinungen werden dort oftmals nach wie vor von den alteingesessenen Funktionären abserviert.

Seyran Ates

Seyran Ates ist Rechtsanwältin und Autorin. Sie ist deutsche Staatsbürgerin mit türkisch-kurdischer Herkunft. In der Öffentlichkeit hat sich die 44-Jährige vor allem als Frauenrechtlerin einen Namen gemacht. Für ihr Engangement für Integration und Gleichberechtigung wurde sie im Juni dieses Jahres mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet. Im Oktober erschien ihr Buch "Der Multikulti-Irrtum. Wie wir in Deutschland besser zusammenleben können."

Das Interview führte Ulrich Bentele, tagesschau.de