Interview

Wechsel- und Nichtwähler Unberechenbar, untreu, bindungsscheu

Stand: 10.09.2013 11:40 Uhr

Immer mehr Bürger entscheiden immer später, wo sie ihr Kreuz machen, die Zahl bekennender Nichtwähler wächst. Warum das so ist und warum der neue Typ des "wählerischen Wählers" für die Union gefährlich werden kann, erklärt Politikwissenschaftler Karl-Rudolf Korte im tagesschau.de-Interview.

tagesschau.de: Wie hat sich das Wählerverhalten in den letzten Jahren verändert, gibt es so etwas wie einen neuen Wählertyp?

Karl-Rudolf Korte: Die Wähler sind unberechenbarer und auch untreuer gegenüber den Parteien geworden. Die Bindung zu Parteien hat extrem nachgelassen. Früher bestimmte die Bindung an ein Milieu auch das Wahlverhalten: Wer im Arbeitermilieu zuhause war, wählte SPD, in den bürgerlichen Milieus wählte man eher konservativ und in der alternativen Szene die Grünen. All das ist durchlässiger geworden.

So hat sich ein neuer Typ gebildet: der wählerische Wähler. Für ihn steht der persönliche Nutzen im Vordergrund. Allgemeine gesellschaftliche Fragen sind für die Entscheidung der Wähler viel weniger wichtig als früher.

Karl-Rudolf Korte
Zur Person

Karl-Rudolf Korte ist seit 2002 Professor für Politikwissenschaft an der Uni Duisburg-Essen und leitet dort die Forschungsgruppe "Regieren" sowie die "NRW School of Governance". Er gilt als Experte für Parteistrategien, Wahlkämpfe und Wählerverhalten.

tagesschau.de: Der fest an eine Partei gebundene Stammwähler ist also eine aussterbende Spezies?

Korte: Rein statistisch sind nur noch 14 bis 15 Prozent aller Wahlberechtigten Stammwähler. Und zu ihnen zählen vor allem die älteren Wähler. Das ist ein dramatischer Rückgang in den letzten 20 Jahren. Über die Hälfte der Stimmberechtigten zählen heute zur Kategorie der Wechsel- bzw. Nichtwähler.

Junge Wähler glauben nicht mehr an etablierte Parteien

tagesschau.de: Welche Altersgruppe neigt besonders zum Nichtwählen?

Korte: Die Erstwähler - von ihnen geht jeder Zweite nicht zur Wahl. Ihr Anteil an der Gesamtheit aller Wähler macht sechs Prozent aus. Das heißt, diese jungen Nichtwähler könnten theoretisch eine eigene Partei in den Bundestag bringen, wenn sie geschlossen wählen würden.

tagesschau.de:  Woran liegt das: Ist die Jugend nicht politisch interessiert, wie immer wieder behauptet wird?

Korte: Dies ist ein Klischee, das nicht zutrifft. Die jungen Menschen sind im Gegenteil sehr politisch interessiert, aber sie glauben nicht mehr an die etablierten Parteien. Sie engagieren sich punktuell für die Themen, von denen sie unmittelbar betroffen sind und nutzen dazu die sozialen Netzwerke im Internet. Politik wandert aus - in nichtetablierte Formate, in denen sich auch Jüngere tummeln.

tagesschau.de:  Welche Altersgruppe führt sich dem Urnengang denn noch besonders verpflichtet?

Korte: Die stärkste Gruppe sind die 55-jährigen bis 70-jährigen Wähler. Sie empfinden eine deutliche Verantwortung, zur Urne zu gehen, um das System stabil zu halten. Aber auch in dieser Gruppe wächst die Zahl der Wechselwähler.

"Wir sind weit entfernt von einer Amerikanisierung"

tagesschau.de: Was beeinflusst die Entscheidung der Bürger für eine Partei mehr: deren Programm oder deren "Köpfe", also die Spitzenpolitiker?

Korte: Köpfe sind sehr wichtig. Natürlich zählen auch Inhalte und Problemlösungen. Aber es geht sehr stark darum, wie glaubwürdig das jeweilige Spitzenpersonal die Inhalte verkörpert. Die  Komplexität von Themen wird reduziert auf Personen, die diese Themen in einfache, glaubwürdige Sätzen bündeln. 

tagesschau.de:  Ist das Ausdruck einer Amerikanisierung des Wahlverhaltens?

Korte: Es gibt einen ganz wichtigen Unterschied zu den USA, wo viele Wähler vor allem nach Aussehen und Sympathie entscheiden. Bei uns stehen die Personen für bestimmte Richtungen und Themen - Kanzlerin Merkel zum Beispiel für eine ruhige besonnene Krisenpolitik, Peer Steinbrück für Kompetenz in allen Banken- und Finanzfragen. In den USA wählen die Menschen mehrheitlich Köpfe, bei uns entscheiden immer noch Themen und Positionen die Wahl. Wir sind weit entfernt von einer Amerikanisierung des Wahlverhaltens.

Was passiert mit meiner Stimme nach der Wahl?

tagesschau.de:  Die Menschen entscheiden immer kurzfristiger, welcher Partei sie ihre Stimme geben. Warum ist das so?  

Korte: Der Anteil der so genannten Spätentscheider wächst dramatisch. Viele Wähler sind lange unsicher, wen sie wählen sollen, wenngleich sie zeitgleich über Monate mit einem Lager sympathisieren. Das liegt daran, dass die Parteien sich weniger deutlich voneinander abgrenzen. Zudem wissen die Wähler nicht genau, was mit ihrer Stimme passiert, also: Welche Koalition wählen sie am Ende wirklich? Verfällt die Stimme? Oder dient sie dazu, ein Bündnis einzugehen, das die Wähler vielleicht gar nicht wollten? Bei dieser Bundestagswahl ist diese Gefahr besonders groß: Die Wähler geben ihre Stimme ab, und es ist höchst ungewiss, was mit ihr am Ende wirklich geschieht, wenn Mehrheitsbildungen sich als komplex und schwierig erweisen. Viele Bürger lassen sich deshalb bis zuletzt Zeit mit ihrer Entscheidung - oder gehen am Ende gar nicht zur Wahl.

tagesschau.de:  Das heißt, die Parteien müssten wieder deutlicher sagen, mit wem sie regieren wollen?

Korte: Den Parteien hilft es natürlich, sich mit eindeutigen Aussagen zurückzuhalten, um niemanden zu verprellen und sich alle Optionen offen zu halten. Das aber kann die eigenen Anhänger irritieren und eine Mobilisierung verhindern. Viele verzichten dann auf den Urnengang.

"Merkel soll Kanzlerin bleiben, die Regierung soll wechseln"

tagesschau.de: Bei der Bundestagswahl, so prognostizieren Experten, wird jeder Dritte nicht wählen gehen. Liegt das nur an der von Ihnen beschriebenen Ungewissheit?

Korte: Dafür gibt es zahlreiche Gründe. Die Stimmungslage in Deutschland ist den Umfragen nach sehr ambivalent: Man möchte mehrheitlich, dass Merkel Kanzlerin bleibt, aber dass die Regierung wechselt. Das ist eine schwierige Ausgangslage für Parteien und Wähler. Die Umfragen gehen davon aus, dass die Kanzlerin im Amt bleibt. Da stellt sich für viele die Frage: warum dann wählen gehen? Außerdem sind die Parteien immer weniger unterscheidbar. Sie werden immer pragmatischer in ihren Problemlösungen, die Abgrenzung zwischen den Lagern schwindet. Auch dies führt dazu, dass die Bürger vom Wahlrecht weniger Gebrauch machen als in Zeiten von inhaltlichen Polarisierungen.

"Nichtwählen ist in Mode gekommen"

tagesschau.de:  Früher galt Nichtwählen als verpönt. Hat sich das geändert?

Korte: Nichtwähler geben sich klarer zu erkennen als früher und sind selbstbewusster geworden. Es gibt recht prominente Nichtwähler, die geradezu dazu aufrufen, nicht zur Urne zu gehen. Nichtwählen ist in Mode gekommen und wird intellektuell begründet.

tagesschau.de:  Ist Nichtwählen Ausdruck von Protest und Politikverdrossenheit?

Korte: Nein, das Ganze ist vielschichtiger. Es gibt drei Gruppen von Nichtwählern: Zur ersten Gruppe gehören die, die nicht wählen können, weil sie verhindert oder krank sind. Die zweite Gruppe ist die, die nicht wollen. Bei ihnen kann diese Haltung Protest und Ausdruck von Unzufriedenheit sein - oder eben genau das Gegenteil: Viele gehen nicht zur Wahl, weil sie finden, dass alles ganz gut läuft und die Kanzlerin ihren Job schon richtig macht. Sie glauben, dass es auf ihre Stimme gar nicht mehr ankommt. Die Wahlforschung nennt sowas "ausmobilisiert". Diese Gruppe ist derzeit besonders gefährlich für die Union.

Und dann gibt es noch eine dritte Gruppe unter den Nichtwählern: diejenigen, die von einer Partei angesprochen werden wollen. Den Parteien gelingt es nur sehr schwer, unterschiedliche Profile herauszuarbeiten. Wem es nicht gelingt, zu polarisieren und dem Wähler zu zeigen, um was es bei dieser Abstimmung im Kern geht, der schafft es nicht, Wähler anzusprechen und zu mobilisieren.

tagesschau.de:  In den neuen Bundesländern war der Anteil der Nichtwähler schon immer wesentlich höher. Warum?

Korte: Dort fehlt eine historische Bindung an die Parteien - das wurde ja erst nach der Wende "gelernt".  Man kann also auch sagen: ostdeutsche Wähler sind moderner als die westdeutschen Wähler. Sie waren immer schon wählerischer und keine feste Bank für die Parteien.

Das Interview führte Simone von Stosch, tagesschau.de.