
Wahlrecht Warum die Reform nicht vorankommt
Der Bundestag soll kleiner werden. Doch wie das Wahlrecht geändert werden soll, bleibt strittig. Warum es auch nach dem jüngsten Vorschlag keine Einigkeit gibt.
Die Stimmung war bereits angespannt, als die Mitglieder der Wahlrechtskommission vergangene Woche in Berlin zusammenkamen. Den Grund dafür haben drei Mitglieder dieser Kommission selbst geliefert: Sebastian Hartmann (SPD), Konstantin Kuhle (FDP) und Till Steffen (Grüne) hatten in der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" ein Konzept zur Reform des Wahlrechts vorgestellt - bevor die Kommission überhaupt ihre Arbeit aufgenommen hatte. Für die Vertreter der übrigen Fraktionen ein Affront, der die inhaltliche Debatte überlagert.
Der Vorstoß der drei Ampel-Abgeordneten betrifft ein Problem, das das aktuelle Wahlrecht mit seiner Erst- und Zweitstimmen-Regelung zwangsläufig mit sich bringt. Mit der Erststimme wählt man direkt in einem der 299 Wahlkreise. Der Wahlkreis-Kandidat oder die Wahlkreis-Kandidatin mit den meisten Stimmen zieht in den Bundestag ein. Mit der Zweitstimme wählt man die Partei und bestimmt so die Größe der im Parlament vertretenen Fraktionen, die sich über die jeweiligen Listen der Parteien speisen. Insgesamt dürften danach im Bundestag also nur 598 Abgeordnete sitzen.
Erringt aber eine Partei mehr Direktmandate durch Erststimmen, als ihr gemäß dem Zweitstimmenergebnis eigentlich zustehen würden, erhält sie dafür Überhangmandate. Weil dadurch aber eine Schieflage entsteht, die andere Parteien benachteiligt, erhalten diese, je nach ihrem Zweitstimmen-Wahlergebnis Ausgleichsmandate.
736 Abgeordnete im Bundestag
Das hat dafür gesorgt, dass der Bundestag in den vergangenen Wahlperioden immer größer geworden ist, weil immer mehr Abgeordnete ins Parlament eingezogen sind. Momentan sind es 736. Die Kosten für Steuerzahler und Steuerzahlerinnen steigen. Und es birgt noch ein weiteres Problem: "Das schränkt die Funktionsfähigkeit sehr ein, der Bundestag wird immer schwerfälliger", sagte Kommissionsmitglied Till Steffen von den Grünen. "Wir müssen ja auch manchmal schnell handeln und gute Ergebnisse produzieren."
Das Wahlrecht hat in der Vergangenheit immer wieder die Politik und auch das Bundesverfassungsgericht beschäftigt. Grundlegende politische Reformvorhaben scheiterten aber zunächst. Die Karlsruher Richter hatten parallel dazu angemahnt, dass die Unmittelbarkeit der Wahl nicht gefährdet werden dürfe. Die abgegebenen Stimmen dürften nicht entkernt werden. Wählerinnen und Wähler müssten sicher sein können, dass ihre Stimme nicht letztlich anderen als den gewählten Parteien beziehungsweise Kandidaten zugutekommen.
Die Große Koalition der vergangenen Legislaturperiode verständigte sich auf einen Kompromiss: Ab der Wahl 2021 sollen bis zu drei Überhangmandate nicht mehr durch Ausgleichsmandate ausgeglichen werden - sofern die Normgröße des Bundestages von 598 Sitzen überschritten wird. Ab der Wahl 2025 soll es dann zusätzlich eine Reduzierung der Wahlkreise von 299 auf 280 geben. Damit verbunden wäre eine Reduzierung der Direktmandate. Dagegen klagten Grüne, FDP und Linke beim Bundesverfassungsgericht, die Hauptentscheidung steht noch aus. Der entsprechende Eilantrag blieb aber ohne Erfolg in Karlsruhe.
Der neugewählte Bundestag beschloss dann im März diesen Jahres, eine Wahlrechtskommission einzusetzen. Sie soll nun fraktionsübergreifend und unterstützt von Sachverständigen einen Vorschlag für eine verfassungskonforme Neuregelung erarbeiten.
"Listenstimme" und "Ersatzstimme"
In diese Grundkonstellation platzte der Vorstoß der drei Abgeordneten aus den Ampel-Parteien wie eine Bombe. Die Idee: Überhang- und Ausgleichsmandate sollen komplett entfallen. Aus der Zweitstimme soll die "Listenstimme" werden. Sie entscheidet alleine über die Sitze einer Partei im Parlament. Hat eine Partei mehr Direktmandate erzielt, als ihr eigentlich zustehen, werden die Wahlkreisgewinner nicht berücksichtigt, die prozentual die wenigsten Stimmen im Vergleich mit andern Wahlkreisgewinnern haben. Dass der Wahlkreis dennoch im Bundestag vertreten ist, soll eine "Ersatzstimme" gewährleisten. Damit werde bei der Wahl eine Zweitpräferenz für den Kandidaten oder die Kandidatin einer anderen Partei abgefragt, die nur dann zum Zuge kommt, wenn der eigentliche Wahlkreissieger nach den genannten Maßgaben leer ausgehen muss. Diese Ersatzstimme sorge dann dafür, dass die abgegebene Stimme nicht verfalle, sie komme einem "B-Kandidaten" zugute.
Der Vorschlag erschien als "Gesprächsangebot zur Reform des Wahlrechts" in der "FAZ". Er bewirkte damit aber eher das Gegenteil eines Dialogs. Andere Kommissionsmitglieder kritisierten vor allem die Art und Weise der Veröffentlichung. "Es ist einfach ganz, ganz schlechter Stil und es ist auch respektlos gegenüber den Sachverständigen", sagte etwa CDU-Politiker Philipp Amthor. Inhaltlich müsse es darum gehen, dass die Wähler nachvollziehen könnten, was mit ihrer Stimme passiere. "Wenn die Wahlkreise an den Zweit- vielleicht sogar Drittplatzierten verteilt werden - das ist ja wie Wahlkreiszuteilung im Roulette. Das kann nicht richtig sein." Der Gewinner eines Wahlkreises solle nach Ansicht der Union definitiv im Bundestag sitzen. Solche Wahlgewinner nicht zu berücksichtigen, gehe nicht.
Inhaltlich und auch im Stil ist man also durchaus noch weit voneinander entfernt und es scheint noch ein weiter Weg bis zu einer Einigung. Im Herbst, so das ehrgeizige Ziel, wolle man einen gemeinsamen Vorschlag vorlegen.