Frauen trauern an einem Grab. | AFP
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Antrag von Ampel und Union Bundestag will Völkermord an Jesiden anerkennen

Stand: 13.01.2023 06:08 Uhr

Der Bundestag will die Massaker des IS an den Jesiden 2014 als Völkermord anerkennen. Auf einen entsprechenden Antrag haben sich die Ampel-Fraktionen und die Union verständigt. Er liegt dem ARD-Hauptstadtstudio vor.

Von Georg Schwarte, ARD-Hauptstadtstudio

Es ist August 2014, als Firat Ortac in Berlin die Welt um Hilfe anfleht. "Seit Sonntagmorgen schreien wir in die Welt und bitten die Welt, diese Menschen zu retten." Da hatte das Morden der IS-Terroristen in der Sinjar-Region im Norden Iraks längst begonnen. Der damalige Außenminister Sigmar Gabriel ahnte damals, was dort passiert: "Das ist die Vorbereitung eines Völkermordes. Um nichts anders geht es. Dort soll die Kulturgemeinschaft der Jesiden ausgerottet werden."

Georg Schwarte ARD-Hauptstadtstudio

Die Welt wusste es, aber ließ Menschen wie die junge Jesidin Hakeema Taha dennoch im Stich. Sie lebte in damals Kodscho, jenem Ort, der zu einem Epizentrum des Mordens wurde. "Sie haben uns eingeteilt. Die Männer wurden mitgenommen, umgebracht", erzählte sie stockend dem Menschenrechtsausschuss des Bundestages. Ältere Frauen seien getötet worden. Junge Frauen und Mädchen wurden versklavt, vergewaltigt, verkauft. Die Jungen in Koranschulen gesteckt, als Selbstmordattentäter und Kindersoldaten für den IS missbraucht.

Düzen Tekkal hat eine Menschenrechtsorganisation gegründet, ist Stimme und Anwältin der Jesiden. "Fast alle Männer in Kodscho haben sie ermordet. Übereinandergelegt wie bei einer Massenhinrichtung und erschossen", sagte die Aktivistin vor dem Menschenrechtsausschuss des Bundestages. Sie ist dankbar, dass Deutschland jetzt endlich den Völkermord anerkennt. "Kodscho gibt es nicht mehr. Kodscho ist ein Synonym für Völkermord. Ein Ort der Finsternis."

"Monster des Krieges"

Nach Ansicht von Max Lucks, der als Bundestagsabgeordneter der Grünen mit dafür sorgte, dass es zur Anerkennung als Völkermord kommt, soll jesidisches Leben überall geschützt werden. "Erlebte Traumata, die stetige Angst nicht in Sicherheit zu leben, das Gefühl, dass die Welt nicht auf die humanitäre Lage der Jesiden schaut - mit unserer Initiative möchten wir genau hierunter ein Schlussstrich ziehen", so Lucks gegenüber dem ARD-Hauptstadtstudio.

Düzen Tekkal sagt, man müsse sich nicht bedienen an Kriegen der Vergangenheit, um das Monster des Krieges zu zeichnen. "Kodscho ist sein eigenes Monster."

Im Antragsentwurf der vier Fraktionen bekommt das Monster jetzt Namen und Gesichter. "Es war längst überfällig, dass die Unkultur des Schweigens beendet wird. Gerade angesichts unserer eigenen Vergangenheit ist es unsere Pflicht, Menschheitsverbrechen, unabhängig davon, wo sie begangen werden, entschieden kenntlich zu machen", so der FDP-Berichterstatter im Menschenrechtsausschuss, Peter Heidt.

Mehr als 5000 Menschen wurden getötet, 7000 verschleppt, Hunderttausende vertrieben. Sie harren bis heute in den Bergen Kurdistans aus. "Sie sind Ankläger des Völkermords, weil ihre Hilfeschreie in den Bergen verhallen", so beschreibt es Tekkal.

Antrag mit 20 Punkten

Die vier Bundestagsfraktionen wollen auch das mit der Anerkennung des Völkermordes ändern. 20 Punkte enthält der Antrag. Darunter mehr Hilfsgelder. Aber auch die Zusage einer juristischen Aufarbeitung und der Verfolgung der Täter. 300.000 Geflüchteten soll die Rückkehr in ihre Heimat in die Region Sinjar ermöglicht werden. Die Situation in den Camps sei desolat, die Menschen seien müde, verzweifelt.

Die Bundestagsfraktionen erwähnen die Suizide vieler Geflüchteter aufgrund der Ausweglosigkeit ihrer Situation. Die Opfer sollen auch deshalb weiterhin im Rahmen von Asylverfahren Schutz erhalten. Die Menschenrechtlerin Tekkal appelliert, nicht nur den Völkermord anzuerkennen, sondern auch die mutigen Frauen zu unterstützen. Sonderkontingente für Aufnahmen der Opfer samt ihrer teils aus Vergewaltigungen entstandenen Kinder zu schaffen.

Ein Urteil als Meilenstein

Im juristischen Bereich ist Deutschland spätestens seit dem 30. November 2021 weltweit Vorreiter. Damals hatte das Oberlandesgericht Frankfurt erstmals in einem Urteil gegen einen IS-Kämpfer den Völkermord anerkannt. Ein Dammbruch. Politikwissenschaftlerin Tekkal spricht von einem Meilenstein, auf den Deutschland stolz sein könne.

Der Jeside Gohdar Alkaidy hatte einst die Petition auf Anerkennung des Genozids in den Petitionsausschuss des Bundestages eingebracht. Er setzt jetzt darauf, dass nach dem Trauma der Opfer jetzt der Albtraum der Täter beginnt. "Wir Jesiden vertrauen auf Deutschland. Dass die Täter sich zu Recht fürchten und wir Jesiden hoffen können."

Auch hunderte Deutsche kämpften damals für die IS. Firat Ortac, der 2014 die Welt um Hilfe anflehte, erzählte einst, dass viele der Täter jetzt unbehelligt in Deutschland lebten.

Noch immer werden Massengräber entdeckt

Die vier Bundestagsfraktionen sprechen auch deshalb von der Verantwortung Deutschlands, die Täter nach dem Völkerstrafgesetzbuch zu verfolgen. "Auf Grundlage des Weltrechtsprinzips ist auch eine Strafverfolgung unabhängig von der Staatsangehörigkeit möglich und zu unterstützen", heißt es in dem Entwurf. Mit der größten jesidischen Diaspora weltweit komme Deutschland hier eine "besondere Verantwortung" zu, so der Vorsitzende der Arbeitsgruppe Menschenrechte der Unionsfraktion, Michael Brand. 

Der Völkermord ist im Irak weiter allgegenwärtig. Noch immer werden Massengräber entdeckt. Noch immer vermissen Angehörige über 2700 Familienmitglieder. In Kodscho starben damals mehr als 400 Männer, 1250 Frauen und Kinder wurden verschleppt, Schwangere und Alte getötet. Hunderte Gräber mit den Namen der Opfer blieben zurück. Aber viele sind noch immer namenlos in Massengräber verscharrt.

Auch deshalb habe man jetzt gehandelt, sagt die SPD-Bundestagsabgeordnete Derya Türk-Nachbaur. "Wir können erst von Gerechtigkeit sprechen, wenn die Opfer beerdigt und die Mörder bestraft sind und wenn Klarheit herrscht über den Verbleib der vermissten Menschen." Eine der Überlebenden aus Kodscho übrigens ist Nadia Murad. Sie erhielt 2018 den Friedensnobelpreis, weil sie sich als Menschenrechtsaktivistin für das Schicksal vor allem der Frauen einsetzte.