Bundeskanzler Scholz und die Minister Habeck und Lindner bei der Sitzung des Bundeskabinetts im Bundeskanzleramt.

100 Tage Ampel Regieren im Ausnahmemodus

Stand: 17.03.2022 14:29 Uhr

Seit 100 Tagen regiert die Ampelkoalition - von Beginn an war es Regieren im Ausnahmemodus. Spätestens seit Putins Krieg gegen die Ukraine sind viele Pläne aus dem Koalitionsvertrag überholt.

Von Martin Ganslmeier, ARD Berlin

"Mehr Fortschritt wagen" hatten sich die Ampel-Partner im Koalitionsvertrag vorgenommen. Knapp 180 Seiten voller Aufbruchsstimmung: ehrgeizige Klimaziele, mehr soziale Gerechtigkeit, mehr Geld für ein digitales und modernes Deutschland. Doch dann kam der Tag, der fast alles veränderte: "Dieser 24. Februar ist ein furchtbarer Tag für die Ukraine und ein düsterer Tag für Europa", sagte Bundeskanzler Olaf Scholz nach dem russischen Angriff auf die Ukraine.

Scholz' historische Rede

Putins Krieg gegen die Ukraine ist ein Schock, der die fortschrittsoptimistischen Pläne der Ampel durchkreuzt. Der gefährlichste Krieg in Europa und die größte Massenflucht seit dem Zweiten Weltkrieg bestimmen nun die Agenda. Regieren im Ausnahmemodus. Scholz, dem Kritiker anfangs vorwarfen, er agiere zu passiv, hält drei Tage nach dem Überfall eine historische Rede im Bundestag. Putins Krieg - ein Weckruf für Deutschland: "Wir erleben eine Zeitenwende. Und das bedeutet: Die Welt danach ist nicht dieselbe wie die Welt davor."

Radikale Kehrtwende

Scholz verkündet eine radikale Kehrtwende in der deutschen Außen- und Sicherheitspolitik. Fast im Alleingang ändert ein sozialdemokratischer Kanzler die jahrzehntelange Politik seiner Partei und entscheidet, worüber jahrelang ergebnislos gestritten wurde: Deutschland rüstet auf. Die Bundeswehr bekommt nicht nur zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts, sondern zusätzlich ein 100 Milliarden Euro starkes Sondervermögen und atomwaffentragende US-Kampfjets sowie bewaffnete Drohnen. Die Entspannungspolitik gegenüber Russland ist ebenso Geschichte wie die Erdgas-Pipeline Nord Stream 2.

Wirtschafts- und Klimaschutzminister Robert Habeck muss nun Deutschland so schnell wie möglich unabhängig machen von russischer Energie. Habeck kauft Flüssiggas in aller Welt ein, auch Fracking-Gas aus den USA. Sogar längere Laufzeiten der Kohlekraftwerke sind wieder möglich: "Es gibt keine Denktabus!"

Immerhin, so Habeck: Putins Krieg zeige, dass es echte Energie-Unabhängigkeit nur mit Sonne und Wind gibt. Denn die gehören niemandem.

Lindner mutet der FDP-Basis viel zu

Finanzminister Christian Lindner bezeichnet die Erneuerbaren nun als "Freiheitsenergien". Auch der FDP-Chef mutet seiner liberalen Basis viel zu. Selten zuvor musste ein Finanzminister in solch kurzer Zeit so viele neue Schulden machen: Sondervermögen, Ergänzungshaushalt - Lindners Haushaltspolitik ist so kreativ wie seine Rhetorik. Sein Ministerium nennt Lindner jetzt "Ermöglichungsministerium".

Lindner habe einen engeren Draht zu Scholz als Vizekanzler Habeck, meinen politische Beobachter in Berlin. Unklar ist, ob der Kanzler das 100-Milliarden-Programm für die Bundeswehr nur mit Lindner vorbesprochen hat, oder auch mit Habeck.

Baerbock ist angekommen

Außenpolitisch stimmt sich Scholz eng mit Außenministerin Annalena Baerbock ab. Selbst Kritiker loben, wie schnell die grüne Außenministerin in ihrem neuen Amt angekommen ist. Russlands Außenminister Sergej Lawrow begegnete sie noch vor Kriegsbeginn selbstbewusst und redete Klartext: "In den letzten Wochen haben sich mehr als 100.000 russische Soldaten mit Panzern und Geschützen in der Nähe der Ukraine versammelt. Und es ist schwer, das nicht als Drohung zu verstehen."

Baerbock ist es, die nach 100 Tagen Ampel in den Meinungsumfragen den größten Sprung nach oben gemacht hat. Auch die Zufriedenheit mit Bundeskanzler Scholz und der Arbeit der Ampel-Koalition ist seit Kriegsbeginn gestiegen. Eine deutliche Mehrheit der Bundesbürger unterstützt die Maßnahmen gegen Russland - noch jedenfalls. Denn wenn die Energie- und Spritpreise weiter steigen, könnte die Stimmung schnell kippen. Und auch die Geschlossenheit innerhalb der Ampel-Parteien dürfte dann Risse bekommen.

Martin Ganslmeier, Martin Ganslmeier, ARD Berlin, 17.03.2022 10:02 Uhr

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete BR24 Aktuell am 17. März 2022 um 10:20 Uhr.