Jutebeutel mit der Aufschrift "#alles ist drin" von Bündnis 90/Die Grünen
Analyse

Grüne in der Ampel Pragmatismus in Grün

Stand: 31.12.2022 12:48 Uhr

Die Grünen müssen in der Ampelkoalition eine Zumutung nach der anderen aushalten. Und doch schaffen sie es, 2022 zum bislang erfolgreichsten Jahr ihrer Parteigeschichte werden zu lassen. Wo ist der Haken?

Eine Analyse von Oliver Neuroth, ARD Berlin

Es war Mitte Oktober beim Grünen-Parteitag in Bonn. Steffi Lemke trat ans Rednerpult. Viele Delegierte im Saal plauderten miteinander oder starrten auf ihre Handys. Doch dann hielt Lemke keine Durchschnittsrede, sondern analysierte schonungslos die Lage ihrer Partei. Die Bundesumweltministerin nannte den Kurs, den die Grünen auf diesem Parteitag beschlossen, eine "Zumutung".

Genau das trifft es, was der Parteivorstand der Basis abverlangt: mehr Atom- und Kohlekraft, Waffenlieferungen in ein Kriegsgebiet und zusätzliche Milliarden fürs Militär. Die Grünen müssen in der Ampelkoalition eine Kröte nach der anderen schlucken und schaffen es doch, 2022 zum erfolgreichsten Jahr ihrer Parteigeschichte werden zu lassen.

Die Haben-Seite

Wohl kaum jemand hätte es Anfang dieses Jahres für möglich gehalten, dass die Partei mit Wurzeln in der Friedensbewegung den vorläufigen Höhepunkt ihrer politischen Existenz in einem Kriegsjahr erleben würde. Die Grünen stimmten im Bundestag für das 100-Milliarden-Euro-Sondervermögen für die Bundeswehr, Außenministerin Annalena Baerbock gehört zu den lautesten Befürworterinnen der Lieferung schwerer Waffen an die Ukraine - an der Parteibasis brodelt es aber nur leise.

Die Anhänger der Grünen schätzen es offenbar, dass die Ökopartei nicht steif an ihren Prinzipien festhält, sondern diese in einer Krisensituation an die politischen Gegebenheiten anpasst - im konkreten Fall könnte man auch sagen: die Prinzipien über den Haufen wirft. Problemlösungen und Pragmatismus scheinen eher gefragt zu sein als parteiinterne Kämpfe.

Und so gelingt es den Grünen, bei Landtagswahlen in diesem Jahr ein Rekordergebnis nach dem anderen zu feiern: in Schleswig-Holstein, Nordrhein-Westfalen und Niedersachsen kamen sie jeweils auf zweistellige Werte und werden an den Landesregierungen beteiligt.

Nur im Saarland passierte ein Ausrutscher: Die Grünen schafften es nicht, in den Landtag von Saarbrücken einzuziehen. Hier waren es offene Streitereien in der Partei, die die Wähler offensichtlich abgestraft haben. Doch der Blick auf die Beliebtheit des grünen Spitzenpersonals lässt die Saarland-Schlappe schnell vergessen: Baerbock und Robert Habeck sind seit Monaten auf den vorderen Plätzen im ARD-DeutschlandTrend.

Die Soll-Seite

2023 stehen weitere Landtagswahlen an. "Markus Söder wird nicht mehr Ministerpräsident von Bayern sein", sagte Grünen-Urgestein Jürgen Trittin im Interview mit dem ARD-Hauptstadtstudio selbstbewusst. Doch das dürfte eher Wunschdenken sein. Zwar sehen Umfragen die Grünen aktuell als zweitstärkste Kraft in Bayern, doch die CSU hat weiterhin einen deutlichen Vorsprung. Gewählt wird im Freistaat im Herbst.

Vielversprechender sieht es für die Grünen bei der Neuwahl des Berliner Abgeordnetenhauses im Februar aus: Sie liegen mit der SPD in Umfragen ungefähr gleichauf, zusammen wären die Parteien stärker als die CDU. Bettina Jarasch hat damit realistische Chancen auf den Bürgermeisterposten. Die Grünen würden dann das zweite Bundesland regieren - bislang ist Baden-Württemberg mit Winfried Kretschmann an der Spitze das einzige grün-regierte Bundesland.

2023 könnte sogar noch ein drittes hinzukommen: Tarek Al-Wazir will im Oktober ins Rennen um das Amt des hessischen Ministerpräsidenten gehen. Er ist seit neun Jahren Landesminister und möchte nun an die Spitze der Regierung in Wiesbaden vorrücken. Doch in Umfragen liegt bisher die CDU vorne.

Die Grünen trauen sich auch nach dem Erfolgsjahr 2022 viel zu. Die entscheidende Frage wird sein, ob sie weiterhin auf so große Unterstützung der Wählerschaft zählen können wie bisher. Die Partei wird immer wieder an ihre politischen Schmerzgrenzen kommen - das bringt das Regieren im Ampelbündnis zwangsläufig mit sich.

Vor allem zur FDP trennen die Grünen politische Welten, zum Beispiel beim Thema Atomkraft: Die Liberalen stellen den auf Mitte April verschobenen Atomausstieg infrage. Verkehrsminister Volker Wissing begründet das unter anderem mit großem Strombedarf durch mehr Elektroautos. Es wäre eine weitere Zumutung für die grüne Basis. Neue Brennstäbe für Atomkraftwerke zu beschaffen, hat die Grünen-Spitze bisher kategorisch ausgeschlossen. Davon auf Druck des Koalitionspartners abzurücken, könnte sie viel Glaubwürdigkeit und damit Wählerzuspruch kosten.

Die Parteichefs

Ricarda Lang und Omid Nouripour sind eher stille Parteichefs, zumindest nach außen. Ihr Standing innerhalb der Partei gilt als solide. Ihnen gelingt es, die Grünen selbst in diesen politisch krisenhaften Zeiten zusammenzuhalten.

Ricarda Lang und Omid Nouripour

An die Strahlkraft ihrer Vorgänger reichen sie nicht heran: Ricarda Lang und Omid Nouripour führen die grüne Partei.

Doch die heimlichen Stars der Partei sind andere: Baerbock und Habeck. Viele halten sie weiterhin für die tonangebenden Köpfe der Grünen. Schließen haben die beiden fünf Jahre lang das Spitzenduo gebildet, das die Partei nach vorne gebracht hat.

Baerbock und Habeck stehen für den Aufstieg der Ökopartei von einer mittleren zu einer starken politischen Kraft. Habecks Rhetorik wird von vielen in der Partei bewundert. Er kann komplexe Probleme in einfacherer Sprache erklären. Das geht auch manchmal schief, dann kann er aber auch Fehler eingestehen. Baerbock hat sich als Außenministerin auch international viel Ansehen erworben, sie setzt einen neuen Ton. Dagegen wirken Lang und Nouripour oft etwas blass, sie sind aber erst seit einem knappen Jahr im Amt.

Wer für die Grünen bei der nächsten Bundestagswahl als Spitzenkandidat ins Rennen geht, lässt sich schwer abschätzen. Immerhin soll die Kandidatenfrage 2025 nicht mehr unter vier Augen abgemacht werden, so wie es Baerbock und Habeck 2021 taten. Diesmal soll die Basis per Urabstimmung entscheiden. Habeck und Baerbock wird ein "professionelles Verhältnis" nachgesagt. Gut möglich, dass der Wettbewerb um die Kanzlerkandidatur schon bald losgeht.

Oliver Neuroth, Oliver Neuroth, ARD Berlin, 30.12.2022 14:47 Uhr

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete der Bericht aus Berlin am 16. Oktober 2022 um 18:00 Uhr im Ersten.