Totenmasken aus Keramik
interview

Sterbe- und Suizidbeihilfe "Wir als Gesellschaft müssen hinschauen"

Stand: 24.06.2022 10:56 Uhr

Der Bundestag debattiert über die gesetzliche Regelung für das Recht, sich das Leben zu nehmen und dabei helfen zu lassen. Warum dies zu mehr Selbsttötungen führen kann - und wie die Politik gegensteuern sollte, erklärt Expertin Schneider im Gespräch mit tagesschau.de.

tagesschau.de: Der Bundestag überschreibt seine Debatte mit dem Titel "Sterbehilfe" - will jedoch auch die Hilfe zur Selbsttötung in jeder Lebenslage ermöglichen: Müsste es da nicht eher "Suizidhilfe" heißen?

Barbara Schneider: Absolut. Hier geht es ja speziell um die Suizidhilfe, nicht nur um die Hilfe beim Sterben unheilbar Kranker, wie sie etwa die Palliativmedizin leistet. Zur Sterbehilfe gehört das Sterben-Lassen, wenn jemand eine Therapie abbricht. Im Bundestag wird aber die Hilfe zum assistierten Suizid diskutiert.

tagesschau.de: In den Gesetzesentwürfen werden dann legale Zugänge zu Medikamenten für Sterbewillige geschaffen, wie sie in den USA etwa bei der Hinrichtung zum Tode verurteilter eingesetzt wird. Das ist ja doch etwas anderes.

Schneider: Es geht beim assistierten Suizid um eine Hilfeleistung zur Selbsttötung, eben auch durch die Bereitstellung und  Beschaffung des tödlichen Mittels.

Barbara Schneider
Zur Person

Prof. Barbara Schneider ist die Leiterin des Nationalen Suizidpräventionsprogramms für Deutschland. Die Chefärztin der Abteilung Abhängigkeitserkrankungen, Psychiatrie und Psychotherapie der LVR-Klinik Köln hat langjährige praktische Erfahrung in der Behandlung Suizidgefährdeter. Zu ihren wissenschaftlichen Schwerpunkten gehören Suizidprävention, Risikofaktoren für Suizid und Suizidalität.

tagesschau.de: Das Bundesverfassungsgericht hat das Selbstbestimmungsrecht des Einzelnen stark betont. Das beinhalte zu entscheiden, wann und wie man aus dem Leben geht - und sich dafür Hilfe zu holen. Unterstützen sie diese weitreichende Definition aus Ihrer Arbeit mit Suizidgefährdeten?

Schneider: Das ist sicher ein sehr weitreichender Autonomiebegriff. Das Bundesverfassungsgericht hat auch den Begriff der Freiverantwortlichkeit in diesem Urteil aufgenommen. Die Entscheidung muss laut Karlsruhe wohlerwogen sein, eine gewisse Festigkeit, Dauerhaftigkeit des Entschlusses muss aber da sein. Die Person muss auch bezüglich anderer Lösungsmöglichkeiten beraten sein - und es darf keine Einflussnahme von außen sowie keine akute psychische Störung vorliegen.

tagesschau.de: Muss die Politik eigentlich zwingend nach dem Urteil in Karlsruhe eine Regelung zum assistierten Suizid aus Ihrer Sicht treffen?

Schneider: Das wird sehr kontrovers diskutiert von verschiedenen Interessengruppen. Was wir aus den Reihen der Suizidprävention in jedem Fall für notwendig halten: Dass es parallel dazu eine gesetzliche Verankerung der Suizidprävention gibt.

tagesschau.de: Die liegt im Moment nicht vor - und wird nur als Empfehlung einer der drei Gesetzesentwürfe miterwähnt.

Schneider: Es muss in jedem Fall vorrangig eine Stärkung suizidpräventiver Strukturen in Deutschland geben. Gerade angesichts der hohen Zahlen, die jedes Jahr in Deutschland so aus dem Leben gehen - mehr als 9.000 Menschen. Wir gehen außerdem von einer hohen Dunkelziffer aus. Und angesichts dessen, dass bis zu 30-mal so viele Menschen Suizidversuche jedes Jahr begehen, die nicht tödlich enden.

"Volatilität und Unbeständigkeit des Sterbewunsches"

tagesschau.de: Wie nachhaltig bleibt dann der Sterbewunsch bei diesen Überlebenden?

Schneider: Es gibt dazu ausführliche Forschung, die zeigt, dass von 100 Überlebenden eines Suizidversuches nur 28 innerhalb von zehn Jahren einen weiteren unternehmen, von denen nur fünf tatsächlich sterben. Das zeigt die Volatilität und Unbeständigkeit des Sterbewunsches. Uns begegnen oft in der Praxis Menschen, die während des Sterbewunsches vorübergehend kognitiv eingeschränkt sind. Das wirkt wie eine eindeutige Entschlossenheit, was sie aber häufig nicht ist.

tagesschau.de: Die Politik will das regeln, wohl um Schlimmeres, aber auch die aktuelle Unübersichtlichkeit der Maßnahmen zu verhindern - sehen Sie noch Nachbesserungsbedarf bei den Gesetzesentwürfen?

Schneider: Aus der Perspektive der Suizidprävention wird in allen drei Gesetzentwürfen der Begriff Beratung und Beratungsstruktur angesprochen. Dies sehen wir sehr problematisch. Es gibt ja viele psychosoziale Beratungsstellen, auch ehrenamtliche, wo sehr viel suizidpräventive Kompetenz vorhanden ist. Aber die sind eben ehrenamtlich und oft nicht ausreichend finanziert. Wir brauchen eine finanzielle Absicherung der bestehenden Struktur. Denn die Beratung vor dem möglichen Suizid spielt eine entscheidende Rolle.

tagesschau.de: Weshalb? Der oder die Sterbewillige hat doch vermutlich meist seine freie Entscheidung bereits getroffen?

Schneider: Das ist ein Irrtum. Es besteht eine Ambivalenz zwischen 'so nicht weiterleben können' und 'nicht sterben wollen'. Die Menschen können in der gegebenen Situation so nicht weiterleben. Wir wissen aber, dass Veränderungen den suizidalen Handlungsdruck auflösen können - innere wie auch äußere im Umfeld der Betroffenen. Sei es durch Beziehungen zu anderen Menschen als auch eine Verbesserung der äußeren Situation, etwa eines Schuldenproblems. Oft ist Einsamkeit ein Grund, aus dem Leben scheiden zu wollen.

tagesschau.de:  Gehen Sie von einer Zunahme von Selbsttötungen aus, wie es etwa bei liberaler Gesetzgebung in Belgien und Niederlande folgte? Es würde sozusagen eine normale Art zu sterben?

Schneider: Davon muss man leider ausgehen. Es gibt umfangreiche wissenschaftliche Literatur dazu, dass die Suizidraten in nahezu allen Ländern angestiegen sind. Und zwar nachdem die Gesetzgebung zum assistierten Suizid liberaler geworden ist. Die Suizide ohne Assistenz nahmen zu, obwohl es das Angebot assistierter Suizide dort gibt.

"Die Schwelle wird niedriger"

tagesschau.de: Wie ist das zu erklären? Weil diese Art zu sterben enttabuisiert ist?

Schneider: Es gibt dazu eine ganz frische Studie, die das bestätigt, was schon länger in der Praxis beobachtet wurde: Man geht davon aus, dass die Haltung der Menschen sich gegenüber der Selbsttötung ändert. Und zwar genau in diesen Ländern, in denen die Gesetzgebung liberaler wird. Die Schwelle wird niedriger, sich ohne Beihilfe selbst das Leben zu nehmen.

tagesschau.de: Jährlich geschehen um die 10.000 Suizide, das entspricht einem Flugzeugabsturz über Deutschland etwa alle 14 Tage - tut die Gesellschaft schon genug zur Suizidprävention?

Schneider: Vieles zur Suizidprävention spielt sich im ehrenamtlichen Bereich ab. Damit die Gesellschaft etwas tun kann, braucht es viel mehr Wissen darum, wie sehr man helfen kann. Stattdessen halten sich Mythen: Dass, wenn jemand suizidal ist, es auch bleiben wird. Es ist auch falsch, nicht darüber offen zu reden - aus Angst denjenigen erst zu diesem Schritt bringen. Das Gegenteil ist der Fall. Wir als Gesellschaft müssen hinschauen und das Gespräch mit dem oder der Betroffenen suchen.

Das Interview führte Corinna Emundts, tagesschau.de

Sollten Sie selbst von Selbsttötungsgedanken betroffen sein, suchen Sie sich bitte umgehend Hilfe. Bei der anonymen Telefonseelsorge finden Sie rund um die Uhr Ansprechpartner. Telefonnummern der Telefonseelsorge: 0800/111 0 111 und 0800/111 0 222 www.telefonseelsorge.de

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete MDR aktuell am 24. Juni 2022 um 11:39 Uhr.