Interview

Experte zu komplizierten Hartz-IV-Regelungen "Ein undurchdringlicher Sozialdschungel"

Stand: 17.06.2014 17:09 Uhr

Mit der Hartz IV-Reform sollte eigentlich alles einfacher werden. Das Gegenteil ist eingetreten, sagt Stefan Graaf vom Netzwerk Jobcenter im Gespräch mit tagesschau.de. Die Regelungen sind so kompliziert, dass oft nicht mal mehr Experten durchblicken.

tagesschau.de: Kommunen und Richter drängen angesichts vieler Klagen von Hartz-IV-Empfängern auf eine Vereinfachung der Regelungen. Warum ist das so kompliziert?

Stefan Graaf: Im Jahr 2005 hatten wir ja im Rahmen der Agenda 2010 eine sogenannte Jahrhundertreform: Sozialhilfe und Arbeitslosenhilfe wurden zusammengeführt und ein Ziel war, alles einfacher und verständlicher zu machen. In den vergangen zehn Jahren haben wir uns von diesem Postulat allerdings denkbar weit entfernt. Denn es gibt in Deutschland ein Bestreben, alles bis ins letzte Detail für jeden Einzelfall zu regeln - aus Angst Pauschalisierungen könnten zu Ungerechtigkeiten führen. Und darüber hinaus neigen wir dazu, vieles durch Rechtssprechungen und daraus resultierende Gesetzesänderungen zu überreglementieren.

Zur Person

Stefan Graaf ist Geschäftsführer des Jobcenters "StädteRegion Aachen" und einer der ehrenamtlichen Sprecher der Jobcenter auf Bundes- und Landesebene. Ziel des Bundesnetzwerks Jobcenter (BNJ) ist es unter anderem, durch Gespräche mit Politik und Wissenschaft das Hartz-IV-System zu verbessern.

tagesschau.de: Was genau wird da alles geregelt?

Graaf: Wir müssen zum Beispiel ermitteln, wie Hartz-IV-Empfänger ihr Warmwasser erzeugen, ob über Zentralheizung oder separaten Wasserboiler. Davon hängt ab, ob das in die Heizungskosten einfließt oder ob es einen sogenannten Mehrbedarf gibt. Das kann man schon kaum mehr jemandem erklären. Dann gibt es für sehr viele individuelle Gegebenheiten Mehrbedarfe, zum Beispiel für kostenaufwendigere Ernährung. Und es gibt sehr viele Ausnahmen, zum Beispiel, was als Einkommen angerechnet wird und was nicht oder was zu berücksichtigendes Vermögen ist.

"Das kompliziertestes Sozialsystem überhaupt"

tagesschau.de: Welche Folgen hat das für Hartz-IV-Empfänger?

Graaf: Die Betroffenen blicken kaum mehr durch. Wir haben für Menschen, die teilweise ohne Schulabschluss oder Ausbildung sind, das komplizierteste Sozialsystem geschaffen, das man sich vorstellen kann. Und es ist viel zu bürokratisch. Es müssen sehr viele Belege gesammelt und Nachweise erbracht werden, jede Änderung der Lebenssituation führt sofort zu einer Änderung des Anspruchs.

Wenn beispielsweise ein Kind geboren wird, steht Hartz-IV-Empfängern eine höhere Miete zu, aber nur wenn sie eine teurere Wohnung in Anspruch nehmen. Das führt auch teilweise zu Umzügen, die gar nicht nötig wären. Wir sollten stattdessen Pauschalen einführen, dann kann sich ein Hartz-IV-Empfänger genau wie ein normaler Arbeitnehmer überlegen, was ist mir das Gut Wohnen wert. So hätten die Menschen auch mehr Eigenverantwortung und Autonomie.

"Pauschalsätze würden zu mehr Autonomie führen"

tagesschau.de: Aber bleibt bei Hartz-IV-Empfängern denn überhaupt Spielraum, um zu entscheiden, ob man für Wohnen oder beispielsweise Essen mehr Geld ausgeben will? Die Sätze sind doch sehr knapp bemessen.

Graaf: Die Pauschalen müssen natürlich ausreichen. Aber speziell beim Wohnen sind die Bedürfnisse der Menschen sehr unterschiedlich. Nicht jede Familie braucht für ein Kind in den ersten Lebensjahren auch unbedingt schon mehr Platz. Die Kosten der Unterkunft sollten, je nach Größe der Familie mit einem Pauschalsatz abgegolten werden. Dann kann jeder selbst entscheiden, wann er umzieht und wann nicht. Denn gerade das Thema Wohnen ist einer der strittigsten Punkte bei Widersprüchen und Klagen. Und da geht es oft nur um 20 Euro. Dieser Aufwand steht in keinem Verhältnis.

Ständig neue Regelungen und Gesetze

tagesschau.de: Blicken denn die Mitarbeiter in den Jobcentern noch durch?

Graaf: Wir haben in Deutschland einen Sozialdschungel, den teilweise schon Experten nicht mehr beherrschen. Die Anforderungen an die Mitarbeiter sind in den vergangenen zehn Jahren kontinuierlich gestiegen. Selbst wenn wir Juristen einstellen, die gut qualifiziert sind, brauchen die locker ein Jahr, um die Standardsachbearbeitung richtig hinzubekommen. Noch viel schwieriger ist das für die vielen Kollegen, die Quereinsteiger sind.

Darüber hinaus kommen ständig neue Regelungen hinzu, wie das neue Bildungs- und Teilhabepaket. Und auch die Gesetzgebung ändert sich ständig: Das SGB II ist seit 2005 in wesentlichen Bestandteilen dutzendfach geändert worden.

Und wir haben einen immensen Verwaltungsaufwand. Beispielsweise beim Rechtskonstrukt der sogenannten temporären Bedarfsgemeinschaft. Da geht es darum, wann sich Kinder von getrennten Eltern bei Mutter oder Vater aufhalten. Hier muss das Jobcenter taggenau abrechnen und hinterher gibt es dann bei einem Elternteil Nachzahlungen, beim anderen Rückforderungen. Das führt zu Bescheiden, die 50 bis 60 Seiten lang sind, nur um 20 oder 30 Euro hin oder her zu rechnen. Mit der Personalausstattung, die wir haben, ist das kaum noch zu leisten.

"Quote der Klagen nicht unverhältnismäßig hoch"

tagesschau.de: Und es scheint zu vielen Fehlern zu kommen, denn es gibt eine Welle von Klagen bei den Sozialgerichten.

Graaf: Dem würde ich widersprechen. Natürlich passieren Fehler, aber nicht mehr und nicht weniger als anderswo. Wenn man bedenkt, wie viele Bescheide täglich von den Jobcentern erlassen werden - immerhin betreuen wir deutschlandweit 6 Millionen Menschen -, haben wir nicht sehr viele Klagen. Im Jobcenter in Aachen haben wir eine Widerspruchsquote von zwei bis vier Prozent und die Klagequote liegt noch darunter. Das ist eine völlig normale Zahl in einem Bereich, wo es um existenzsichernde Zahlungen geht.

tagesschau.de: Bei Versäumnissen können Hartz-IV-Empfängern vom Jobcenter Sanktionen auferlegt, also zum Beispiel die Bezüge gekürzt werden. Auch gegen solche Sanktionen gibt es viele Klagen. Wie kommt es, dass einem Drittel dieser Klagen stattgegeben wird?

Graaf: Auch der Bereich Sanktionen ist so kompliziert, dass er für alle Beteiligten sehr schwer zu handhaben ist. Auch hier würden wir uns eine Vereinfachung wünschen. Oft stellt sich in einem Gerichtsverfahren der Sachverhalt auch plötzlich anders dar als zuvor. Da werden dann Gründe vorgetragen, die vorher nicht bekannt waren.

"Vereinfachung statt Verschärfung der Sanktionen"

tagesschau.de: Medienberichten zufolge plant die Regierung zurzeit, die Sanktionsmöglichkeiten zu verschärfen. Wie sinnvoll ist das?

Graaf: Wir brauchen keine Verschärfung, wir brauchen einfachere, transparentere Regelungen. Die Betroffenen müssen ganz klar die Spielregeln kennen. Sanktionen sind notwendig, weil es immer eine handvoll Menschen gibt, die ihre Arbeitsmotivation erst dann steigern, wenn es ihnen wirklich ans Portemonnaie geht. Bei anderen liegen aber andere Hinderungsgründe vor, wie zum Beispiel psychosomatische Gründe bis hin zur Frage, ist der Mensch überhaupt erwerbsfähig? Das erkennt man oft erst, wenn man sehr genau hinschaut. Aber dafür fehlt in den Jobcentern teilweise die Zeit und oft auch die entsprechende Schulung.

Das Interview führte Sandra Stalinski, tagesschau.de