
Rückreise trotz Krieg Warum viele Ukrainer Deutschland verlassen
Tausende aus der Ukraine Geflüchtete sind wieder in ihre Heimat zurückgekehrt - trotz prekärer Sicherheitslage. Der UNHCR warnt vor einer Rückreise. Ein Forscher rechnet mit "Pendel-Migration".
"Trotz der Bombardierungen und allen anderen Gefahren, ich möchte nach Hause. Ich vermisse mein Land, meine Stadt und meinen Ehemann," erzählt Karyna Chernichenko aus Charkiw im Report-Mainz-Interview. Die 28-Jährige lebt seit acht Wochen in einer Kölner Flüchtlingsunterkunft, zusammen mit ihren Schwestern und ihrem Neffen.
Gemeinsam mit ihrem Mann betreibt sie einen Online-Shop. Am vergangenen Samstag steigt sie in den ausgebuchten Bus in ihre Heimatstadt. Wie Karyna sind in den vergangenen zwei Wochen immer mehr Ukrainerinnen aufgebrochen, um zurück in die Ukraine zu gehen. Aus fast allen großen Städten Deutschlands fahren die Busse über Berlin, Frankfurt (Oder) nach Polen in die Ukraine. Von Kiew aus geht die Fahrt nach Charkiw oder Odessa weiter.
UNHCR warnt vor Rückreise
Chris Melzer vom UN-Flüchtlingswerk UNHCR war nach Kriegsbeginn wochenlang an der Grenze zur Ukraine. Gegenüber Report Mainz berichtet er: "Ich habe mit Hunderten, vermutlich Tausenden Flüchtlingen gesprochen. Sie haben alle immer gesagt: Was glaubst du, wann können wir zurück? Also der Wille, so schnell wie möglich zurückzugehen, war immer da."
In den vergangenen Wochen habe das UN-Flüchtlingswerk 2,2 Millionen Grenzübertritte in die Ukraine gezählt, in aller Regel von Polen aus. "Bei dieser Zahl sind aber auch viele dabei, die nur vorübergehend in die Heimat reisen. Sie wollen sich etwa um ältere Angehörige kümmern, Dokumente holen oder einfach schauen, ob das Haus noch steht," erzählt Melzer. Doch momentan gebe es keinen Ort in der Ukraine, von dem man wirklich sagen kann, dass er sicher ist. UNHCR könne deshalb nicht empfehlen, dieses Risiko einzugehen.
"Pendel-Migration": ein neues Phänomen?
Nach Recherchen des ARD-Politikmagazins behalten sich viele Rückkehrer die Entscheidung vor, bei zunehmender Gefahrenlage die Flucht wieder anzutreten. Aufgrund der geografischen Nähe der Ukraine zu Westeuropa prophezeit der Migrationsforscher Franck Düvell von der Universität Osnabrück eine "Pendel-Migration".
"Die Ukraine ist ein EU-Nachbarland. Man kommt schnell und einfach hin. Es gibt keine Ein- und Ausreise-Beschränkung. Dadurch haben wir eine viel größere Dynamik zwischen den Ländern. Das erlaubt den Menschen auch so eine Art Probe-Rückkehr. Wir müssen ja abwarten, ob die Menschen jetzt dauerhaft zurückkehren, ob sie befristet zurückkehren. Und was ich erwarte, ist eigentlich ein größeres Hin und Her. Also eine Art Pendel-Migration. Und das haben wir in anderen Konflikten überhaupt nicht, weil die Konfliktherde und die Herkunftsländer einfach viel zu weit weg sind."
"Familien wurden auseinandergerissen"
Der Wunsch nach Familienzusammenführung sei der Hauptfaktor für die riskante Entscheidung, schon jetzt wieder in die Ukraine zurückzukehren, so der Migrationsforscher Franck Düvell zu Report Mainz: "Im Fall der Ukraine durften die Männer nicht fliehen, die Familien wurden auseinandergerissen. Frauen, Kinder hier, Männer dort. Sie sorgen sich um ihre Männer und der Rückkehrwunsch bei den verheirateten Frauen ist erwartungsgemäß recht groß."
Aber auch die Sorge vor dem Verlust des Arbeitsplatzes spiele eine große Rolle, berichtet Oksana Vyhovska, Vorsitzende der Deutsch-Ukrainischen Gesellschaft e.V., Freiburg: "Ich weiß, viele sind schon zurückgegangen, weil die Wirtschaft sie braucht. Der Staat Ukraine muss weiterleben."
Das bestätigt auch der Migrationsforscher Düvell: "Die Ukraine hat ein Fünftel ihrer Bevölkerung durch die kriegsbedingte Flucht verloren. Auch schon historisch über viele Jahre hinweg hat das Land ein Schrumpfen der Population erlebt, zum Teil biologisch durch Alterung und niedrige Geburtenraten, zum Teil aber auch durch Jahrzehnte hoher Auswanderungsraten. Zuerst nach Russland, dann die in die EU, in den Westen. Das Land ist regelrecht ausgezehrt und ausgeblutet."
Eine prekäre Sicherheitslage
Schon seit Kriegsbeginn setzt sich Oksana Vyhovska für ihre Landsleute ein, hilft ihnen, in Deutschland Fuß zu fassen, eine Unterkunft zu finden oder mit der Bürokratie zurechtzukommen. Nun kehren manche der Geflüchteten, denen sie geholfen hat, wieder in die Ukraine zurück. Eine von ihnen ist Natalia Romanovska, die mit ihrer zwölfjährigen Tochter vor zwei Wochen zurück nach Kiew reiste. Sie habe sich schwer getan mit der Entscheidung, erzählt Natalia, habe Angst gehabt. Doch in Kiew erlebte sie Normalität: "Kiew ist fast voll. Alle kommen schon zurück, das Leben geht weiter. Das Wetter ist schön, alle lachen, alles ist gut."
Nur wenige Stunden nach dem Telefonat mit Report Mainz wird die ukrainische Hauptstadt nach wochenlanger Pause erneut mit Raketen beschossen. Am Tag darauf erzählt Natalia ihrer früheren Helferin Oksana, sie habe damit überhaupt nicht gerechnet, fühle sich verzweifelt und frage sich, wie es jetzt weitergehen soll.
Zwei Tage nach ihrer Abreise schickt Karyna Chernichenko eine Nachricht aus der Heimat: 38 Stunden hat die Fahrt von Köln in den Osten der Ukraine gedauert, sechs Stunden mussten sie und die anderen 80 Mitreisenden an der Grenze ausharren. Aber dann sind sie und ihre Katze Mocca gut angekommen. In ihrem Zuhause - einem Land, in dem weiter Krieg herrscht.