Fiskalpakt und ESM Worüber die Richter entscheiden müssen

Stand: 10.07.2012 01:22 Uhr

Die Gesetze zu Fiskalpakt und ESM waren gerade vom Bundestag und Bundesrat gebilligt worden, da gab es schon die ersten Klagen dagegen. Das letzte Wort haben nun die Bundesverfassungsrichter. Ein Überblick zu wichtigen Fragen und Antworten rund um die Klagen zur Euro-Rettung sowie zu vergangenen Europa-Urteilen des Gerichts.

Von Frank Bräutigam, SWR, ARD-Rechtsexperte

Warum hat das Bundesverfassungsgericht den Bundespräsidenten gebeten, die Gesetze zu ESM und Fiskalpakt noch nicht zu unterzeichnen?

Wenn ein Gesetz Bundestag und Bundesrat passiert hat, prüft und unterzeichnet der Bundespräsident es. Danach wird es im Bundesgesetzblatt veröffentlicht und tritt in Kraft.  Noch in der Nacht nach der Abstimmung in Bundestag und Bundesrat aber reichten mehrere Gruppierungen Klagen gegen ESM und Fiskalpakt in Karlsruhe ein, die sie schon vorher angekündigt hatten. Würde der Bundespräsident die Gesetze sofort unterschreiben, wären Fakten geschaffen, weil die Bundesrepublik dann bereits völkerrechtlich an die Verträge gebunden wäre. Das Gericht hätte keine Chance, die Eilanträge auf Rechtsschutz zu bearbeiten. Mit der Bitte an den Bundespräsidenten verschafft sich das Gericht also Zeit.

Gab es so eine Bitte schon einmal?

Ja, das ist nichts Ungewöhnliches. Der damalige Bundespräsident Horst Köhler teilte zum Beispiel im Juni 2008 mit, er werde das Gesetz zum EU-Vertrag von Lissabon auf Bitten des Gerichts nicht unterzeichnen, bis Karlsruhe darüber entschieden hat.

Welche Bedeutung haben die "Eilanträge"?

Juristisch korrekt ist es ein Antrag auf Erlass einer "einstweiligen Anordnung". Das Gericht hat die Möglichkeit, Gesetze damit vorläufig zu stoppen. Danach beginnt dann das sogenannte "Hauptsacheverfahren" über die Verfassungsmäßigkeit der Gesetze. Das Gericht betont regelmäßig, dass die Eilentscheidung noch nichts über das Ergebnis des Hauptsacheverfahrens aussagt. Bei den Klagen gegen ESM und Fiskalpakt könnte die Entscheidung über die Eilanträge aber eine  Vorentscheidung sein. Das Gericht wird auch die inhaltlichen Fragen kursorisch prüfen, wie aus der Gliederung der mündlichen Verhandlung hervorgeht.

Hat das Bundesverfassungsgericht schon einmal per Eilentscheid eingegriffen?

Das kommt eher selten vor. Aber: Das Gericht stoppte Ende Oktober 2011 das sogenannte "Neuner-Gremium" des Bundestages per einstweiliger Anordnung. Das Gremium aus neun Bundestagsabgeordneten sollte eilige und vertrauliche Entscheidungen in Sachen Euro-Rettung absegnen. Karlsruhe entschied später in der Hauptsache, dass grundsätzlich das Plenum des Bundestages zuständig ist, ein kleines Gremium nur in absoluten Ausnahmefällen. Eine absolute Ausnahme ist, dass für das Eilverfahren eine mündliche Verhandlung angesetzt wurde. Normalerweise wird hier nach Aktenlage entschieden. Dies ist ein Zeichen, wie intensiv das Gericht sich mit den Klagen auseinandersetzt.

Wie lange braucht das Gericht für die Eilentscheidung?

Im aktuellen Fall ist der Zeitdruck besonders groß. Die anstehenden Klagen haben im Gericht hohe Priorität. Die Entscheidung über die Eilanträge könnte Ende Juli  fallen. Bis zur Eilentscheidung wird der Bundespräsident die Gesetze nach seiner Ankündigung nicht unterschreiben.

Wie hat das Bundesverfassungsgericht bisher in Sachen Europa entschieden?

Das Grundgesetz ist europafreundlich angelegt, das ergibt sich schon aus der Präambel. Es erlaubt außerdem eine "Übertragung von Hoheitsrechten" an die EU. Die großen Reform-Verträge der EU ließ das Gericht stets passieren, zum Beispiel Maastricht 1993 und Lissabon 2009 - allerdings immer mit einem großen "Aber": Den Mitgliedsstaaten müssten wesentliche Befugnisse belassen werden. Dazu gehöre vor allem das Budgetrecht des Bundestages. Das Parlament müsse weiterhin eine zentrale Rolle spielen. Diese Art "Mittelweg" wählte das Gericht auch im Urteil zum vorläufigen Euro-Rettungsschirm 2011.

Warum hat es im September 2011 den vorläufigen Rettungsschirm EFSF akzeptiert?

Das Gericht betonte: Die Entscheidungen über Einnahmen und Ausgaben müssen in der Hand des Deutschen Bundestages bleiben. Und: es darf keine automatische Haftung für finanzielle Entscheidungen geben, die andere Staaten treffen. Der Bundestag dürfe solche Entscheidungen nicht auf Dauer aus der Hand geben. Dies sei beim vorläufigen Rettungsschirm EFSF aber nicht der Fall. Der Politik stehe bei der festgelegten Höhe der übernommen Garantien ein großer Einschätzungsspielraum zu. Außerdem habe sich Deutschland keiner automatischen Haftung für fremde Schulden unterworfen. Anhand der Kriterien des Urteils zum vorläufigen Rettungsschirm muss das Gericht nun ESM und Fiskalpakt prüfen. Man solle das Urteil von 2011 nicht als "Blanko-Ermächtigung" für weitere Rettungspakete nehmen, gab Präsident Voßkuhle der Politik mit auf den Weg.

Hat sich das Gericht sich auch zum Thema "Eurobonds" geäußert?

Nicht ausdrücklich. Aus den Leitsätzen im Urteil von 2011 "keine Haftungsübernahme für Entscheidungen anderer Staaten" lässt sich aber zumindest eine deutliche Skepsis zu umfassenden Eurobonds entnehmen.

Welcher Grundgedanke steckt hinter den Europa-Urteilen des Gerichts?

"Die Bürger sollen nicht eines Morgens aufwachen und feststellen, dass diejenigen, die sie gewählt haben, nichts mehr zu entscheiden haben", sagte Gerichtspräsident Andreas Voßkuhle kürzlich in einem Vortrag. Die Betonung der besonderen Rolle des Bundestages ist also aus Sicht des Gerichts das Mittel, bei der Euro-Rettung den Bezug zum einzelnen Wähler und seiner Stimme zu wahren.

Was hat es genau auf sich mit der diskutierten Volksabstimmung?

Das Grundgesetz hat eine Art "Selbstschutz" eingebaut. Bestimmte Grundsätze wie das Demokratieprinzip oder die Form des Bundesstaates dürfen Bundestag und Bundesrat auch nicht mit einer Zweidrittelmehrheit verändern. Das ist die sogenannte "Ewigkeitsgarantie", geregelt in Art. 79 Abs. III GG. Zum Demokratieprinzip im weiteren Sinne gehört es auch, dass der Bundestag in Finanzfragen das letzte Wort hat. Das sind die Grenzen, die das Grundgesetz der deutschen Mitwirkung in Europa unter anderem setzt. Will die Politik diese Grenzen überschreiten, muss ein neues Grundgesetz her. Nach Art. 146 GG müsste dann das Volk über ein neues Grundgesetz abstimmen.

Ob diese Grenze schon durch ESM und Fiskalpakt überschritten wird, ist der entscheidende Streitpunkt der aktuellen Klagen. Die Kläger bejahen das. Politiker wie Wolfgang Schäuble deuteten an, dass die Grenze zumindest bei einer nächsten großen EU-Reform überschritten sein könnte. Vorschläge für einen solchen "großen Wurf" wurden auf dem letzten Gipfel in Brüssel diskutiert.

Worüber genau würde dann abgestimmt?

Nicht möglich ist nach aktueller Rechtslage eine Volksabstimmung speziell über die Gesetze zu ESM und Fiskalpakt. Das Volk würde gem. Art. 146 GG über ein neues Grundgesetz abstimmen. Inhaltlich könnte man den aktuellen Text nur an entscheidenden Stellschrauben zur deutschen Beteiligung an Europa verändern, also wenige Artikel neu fassen. Dennoch sollte man die Bedeutung einer solchen Abstimmung - ob und wann immer sie kommen mag - über die bewährte Grundlage unseres Staates nicht unterschätzen.