
Prozess um Tötungsfall Chemnitz Wie die Lage im Sommer eskalierte
Stand: 18.03.2019 14:12 Uhr
Seit heute läuft in Dresden der Prozess gegen einen Syrer wegen seiner mutmaßlichen Beteiligung an dem Tötungsfall, der die Stadt im Sommer brodeln ließ. Reporter von ARD und "SZ" rekonstruieren, was damals passierte.
Von Markus Grill, Tarek Khello, Elena Kuch, Amir Musawy, Sebastian Pittelkow und Katja Riedel (NDR, WDR, MDR und "SZ")
Ein Mensch wird getötet - und eine Stadt steht tagelang Kopf und seither unter Beobachtung. Am 26. August 2018 gegen 4.00 Uhr stirbt der 35 Jahre alte Daniel H. aus Chemnitz an den Folgen tödlicher Messerstiche. Bereits wenige Stunden nach der Tat gehen in der Stadt Rechtsextreme, AfD-Anhänger und aufgebrachte Bürger auf die Straße. Ein Tod wird zum Politikum.
Reporter von NDR, WDR, MDR und "Süddeutscher Zeitung" haben über Monate hinweg mit Menschen gesprochen, für die der Tod von Daniel H. eine Zäsur ist.
Am 25. August 2018 trifft sich Daniel H. mit Freunden zum Skat, er trinkt, raucht und konsumiert wohl auch geringe Mengen Kokain. Gegen 3.10 Uhr trifft er in der Nähe des Karl-Marx-Monuments auf den irakischen Flüchtling Farhad A. Der soll auf Daniel H. zugegangen sein und nach einer "Karte" gefragt haben. Dabei soll er hörbar Luft durch ein Nasenloch eingeatmet haben. Wahrscheinlich geht es um Drogen. Und es kommt zum Streit. So schildern es Zeugen.
Prozessauftakt zu tödlicher Messerattacke: Was passierte in Chemnitz?
Morgenmagazin, 18.03.2019, Sebastian Pittelkow, NDR
Vier Männer rennen weg
Daniel H. soll Farhad A. geschubst und ihm zugerufen haben: "Verpiss dich!". Farhad A. verschwindet kurz und kommt mit einem Bekannten zurück, dem syrischen Flüchtling Alaa S. Sie greifen Daniel H. an, Alaa S. von vorne, Farhad A. von hinten. So schildert es die Staatsanwaltschaft in ihrer Anklage. Der Hauptzeuge spricht von Stichen und Schlagbewegungen, ein Messer habe er nicht gesehen. Vier Männer rennen weg. Zwei davon nimmt die Polizei fest. Yousif A. und Alaa S.. Farhad A. und ein weiterer Mann entkommen. Während Farad A. davonrennt, ruft er einen Bekannten an und sagt ihm angeblich, dass er mit einem Messer auf eine Person eingestochen habe.
Chemnitz schläft noch, als das lokale Onlineportal "Tag24" um 7.54 Uhr eine Meldung veröffentlicht und ein fatales Gerücht verbreitet: "35-Jähriger stirbt nach Messerstecherei in der City... Nach ersten Informationen soll ... eine Frau belästigt worden sein. Als ihr Männer zu Hilfe kommen wollten, eskalierte offenbar die Situation." Eine Falschmeldung, die mithelfen wird, viele Menschen zu mobilisieren, vor allem Rechte. 365.000 Mal wird die Falschmeldung bis heute geklickt. Das Gerücht fällt auf fruchtbaren Boden.
Viele Chemnitzer schon vor der Tat verunsichert
In Chemnitz träumen viele immer noch von der Vollendung der Wende, vom Gleichsein zwischen Ost und West. Die Bürger sind stolz auf die eigene Tradition, auf Karl Marx, den Fußball und die Automobilindustrie. Aber mit den Flüchtlingen kommt das Unbekannte nach Chemnitz. Die Stadt ist eine der sichersten deutschen Großstädte. Aber seit Monaten wird viel über Ausländerkriminalität gesprochen. Viele fühlen sich verunsichert.
Der AfD-Wahlkreisabgeordnete Carsten Hütter begründet das mit großer Unzufriedenheit. Chemnitz sei gespalten - in extrem links und extrem rechts - und nur an wenigen Stellen eine Stadt der Moderne, als die sie sich gern präsentiert. "Hier gärt es unter der Oberfläche", sagt Hütter. Hier gebe es sozialen Sprengstoff. "Was wir gerade erleben, ist das Ergebnis einer langen, stetigen Entwicklung, die durch diese Geschichte um Daniel H. einen Zündfunken gefunden hat."
Hütter, der an jenem Morgen zunächst nur vage hört, was passiert ist, widmet eine ohnehin geplante Veranstaltung nahe des Tatortes um: in eine Kundgebung gegen Kriminalität. Er will den bürgerlichen Protest kanalisieren, sagt er.
Denn bereits um 9.08 Uhr teilt die Chemnitzer Hooligangruppe "Kaotics" auf Facebook einen Demonstrationsaufruf - ein großer Teil der Chemnitzer Fußballszene ist fest in rechter Hand. "Unsere Stadt - unsere Regeln". Die "Kaotics" mobilisieren für 16.30 Uhr am Karl-Marx-Kopf, nur einige hundert Meter vom Tatort entfernt. Sie geben ein Motto aus: "Ehre Treue Leidenschaft für Verein und HEIMATSTADT." (Fehler im Original, Anmerkung der Redaktion)
"Das löst das Problem nicht"
Der Aufruf wird geteilt - auch von der Kleinpartei ProChemnitz, die in der Stadt und im Chemnitzer Umland eine Schnittstelle bildet zwischen Rechten und Rechtsextremen. Und ProChemnitz trägt dazu bei, dass sich der Protest in der rechten Internetblase binnen Sekunden verbreitet. Auch Linke, auch die Antifa in Chemnitz, Dresden, Hamburg und anderswo lesen im Internet mit, sie setzen schnell eigene Hashtags, mit denen auch sie nach Chemnitz mobilisieren.
Der Mann, der in den kommenden Wochen der Kopf der rechten Demonstrationen werden wird, bekommt am Morgen nach der Tat einen Anruf. Martin Kohlmann, Chef von ProChemnitz, erfährt, dass "sie auf dem Stadtfest einen abgestochen haben", so drückt er sich aus. Kohlmann entscheidet, dass sich ProChemnitz dem Aufruf der "Fußballfreunde" anschließt, wie er die rechtslastigen Hooligans nennt. "Denn dass man da irgendwie mal schweigt und ein paar Blumen niederwirft und dann wieder geht, das löst das Problem nicht."
ProChemnitz macht in den kommenden Tagen aus dem Fall Daniel H. einen Protest gegen angeblich ausufernde Ausländerkriminalität. Kohlmann und seine Mitstreiter verknüpfen bürgerlichen Protest mit rechtsextremen Parolen und politisieren den Fall Daniel H. Die Lage beginnt bereits zu eskalieren.
Ermittler verhören zwei Verdächtige
Während die Demos geplant werden, sitzen die Festgenommenen Yousif A. und Alaa S. vor den Ermittlern. Beide geben zunächst vor, nichts von einer tödlichen Auseinandersetzung bemerkt zu haben. Später belasten sie den vom Tatort geflüchteten Farhad A. Yousif A. sagt, Farhad A. habe in der Tatnacht ein Messer bei sich getragen.
Am Morgen des 26. August findet die Polizei ein blutverschmiertes Messer. Spuren der beiden Inhaftierten sind auf der mutmaßlichen Tatwaffe nicht, aber DNA-Spuren des Opfers Daniel H. und eine unvollständige DNA, bei der es sich um die von Farhad A. handeln könnte. Ihn beschreiben zahlreiche Zeugen als aggressiv, schon öfter habe er Personen angegriffen. Auch unmittelbar vor der Tat habe er vor einer Shisha-Bar im Streit einen anderen mit einem Messer bedroht.
Farhad A. versteckt sich in der Stadt
Während Horden von Menschen durch Chemnitz ziehen, ist Farhad A. immer noch in der Stadt. Er versteckt sich zusammen mit seinem jüngeren Bruder bei einem Freund. Reporter von NDR, WDR, MDR und "SZ" haben diesen wichtigen Zeugen gesprochen. Die Männer essen Döner und Pommes und sprechen auch über die Tat. Farhad A. soll unruhig gewirkt und telefoniert haben. "Ich habe ihn gefragt, hast du jemanden getötet? Er hat nein gesagt. Das Gesicht seines Bruders wurde rot und er wollte etwas sagen, aber Farhad hat ihn nicht sprechen lassen", berichtet der Zeuge.
Farhad A. bleibt eine Nacht. Am 28. August gegen 4.00 Uhr morgens steigen er und sein Bruder in ein Auto. Der Fahrer bringt sie nach Leipzig. Inzwischen suchen deutsche und irakische Sicherheitsbehörden Farhad A. im Irak.
Während Farhad A. seine letzten Stunden in Chemnitz verbringt, stehen draußen 600 Polizisten der mehr als zehnfachen Zahl von Demonstranten gegenüber, darunter viele gewaltbereite Rechtsextremisten und Hooligans. Erst Tage später verstärken Polizisten aus fünf Bundesländern den Einsatz.
AfD an der Seite von Rechtsextremen
Ministerpräsident Michael Kretschmer sieht bis heute ein besonnenes Handeln: "Es war knapp. Es ist gelungen." Die Vorfälle hätten seiner Ansicht nach überall passieren können, nicht nur in Chemnitz. Schuld seien vor allem Gerüchte, die über Internet und manche Medien verbreitet wurden und so einen "Resonanzboden" geschaffen hätten.
154 Strafanzeigen gehen in diesen Tagen ein, die zu Ermittlungsverfahren führen. 111 dieser Verfahren sind politisch rechts motiviert, 20 politisch links.
Besonders viele Fälle ereignen sich an den beiden Tagen nach Daniel H.s Tod und am 1. September, dem Tag des sogenannten Trauermarsches der AfD. Dabei zeigt sich die AfD erstmals Seit an Seit mit Vertretern der Neuen Rechten und rechtsextremen Gruppen. Das Auftreten wirkt orchestriert, die AfD bestreitet solche Absprachen bis heute, und für Carsten Hütter waren die Tage von Chemnitz ein Erfolg. "Wir haben auf Missstände hinweisen können", sagt er.
Yousif A. ist schon lange aus der Haft entlassen. Es gab keine ausreichenden Beweise gegen ihn. Aala S. steht ab heute vor Gericht, aber es ist unklar, mit welcher Waffe er Daniel H. verletzt haben könnte. Farhad A. ist weiter auf der Flucht.
Exclusiv im Ersten, um 18.3., 22:45: Tod in Chemnitz - Eine Nacht und ihre Folgen
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