Interview

Hessischer Landeschef über Grünen-Parteitag "Bei Koalitionsoptionen Neues denken"

Stand: 16.11.2008 16:18 Uhr

Hessens Landeschef Al-Wazir gilt als einer der kommenden Stars der Grünen. Im Interview mit tagesschau.de spricht er über die Neuorientierung seiner Partei in Koalitionsfragen, die Bedeutung der Wahl Cem Özdemirs und warum das Scheitern von Fritz Kuhn "kein Beinbruch" ist.

Trotz des Scheiterns der geplanten rot-grünen Minderheitsregierung in Hessen: Landeschef Tarek Al-Wazir gilt als einer der kommenden Stars der Grünen. Künftig muss sich seine Partei in Koalitionsfragen neu orientieren, meint er. Im Interview mit tagesschau.de spricht er außerdem über die historische Bedeutung der Wahl Cem Özdemirs zum Parteivorsitzenden und warum das schlechte Abschneiden von Fritz Kuhn auf dem Parteitag "kein Beinbruch" ist.

tagesschau.de: Was bedeutet die Wahl von Claudia Roth und Cem Özdemir als Bundesvorsitzende für die Grünen?

Tarek Al-Wazir: Zuerst muss man sagen, sie haben beide sehr gute Wahlergebnisse bekommen. In anderen Parteien sind Ergebnisse um die 80 Prozent nicht so berauschend. Für die Grünen ist das fast schon einstimmig. Das zeigt, dass die Partei sehr daran interessiert ist, geschlossen in die Bundestagswahl zu gehen.

Die Wahl von Cem Özdemir zum neuen Bundesvorsitzenden hat sicherlich auch eine historische Dimension. Für die Grünen zwar weniger – für uns ist es nichts Besonderes, dass Cem Özdemir kandidiert. Für die bundesdeutsche Gesellschaft wird es in der Rückschau aber sicher etwas ganz bemerkenswertes sein, dass ein Gastarbeiterkind einer bundesdeutschen Partei vorsteht. Nicht in irgendeiner fachlichen Funktion, sondern als Vorsitzender von allen für alle. Insofern war das gestern eine gute Entscheidung.

tagesschau.de: Özdemir wurden ja im Vorfeld seiner Wahl teilweise inhaltliche Schwächen vorgeworfen. In seiner gestrigen Bewerbungsrede sprach er davon, dass er kein neues Grundsatzprogramm schreiben wolle. Besorgt Sie das?

Al-Wazir: Er hat gesagt, die Grünen brauchen kein neues Grundsatzprogramm, weil das aktuelle Programm das Beste aller bundesdeutschen Parteien ist. Özdemir ist jemand, der über grüne Kreise hinaus wirkt. Ich kenne ihn schon sehr, sehr lange und weiß, dass er Begeisterung auslösen kann. Und Begeisterung ist ja das, was deutschen Parteien insgesamt fehlt.

Dass ihm seine Kritiker jetzt vorwerfen, er lese zu wenig Papiere, zeigt mir, dass jetzt auch in den Medien die "Deutsche Krankheit" ausgebrochen ist. Herrn Bütikofer hat man jahrelang vorgeworfen, dass er zu viele Papiere liest. Kaum verzichtet Bütikofer auf eine erneute Kandidatur, wirft man Özdemir das Gegenteil vor. Jeder hat seinen Stil. jeder hat seine Stärken und Schwächen. Ich bin mir sicher: Özdemir wird ein guter Bundesvorsitzender sein.

tagesschau.de:: Renate Künast und Jürgen Trittin sind mit 92 Prozent als Spitzenkandidaten für die Bundestagswahl 2009 gewählt worden. Kann es in der neuen Grünen-Führung zu Interessenskonflikten kommen?

Al-Wazir: Aus meiner Sicht nicht. Jeder hat seine unterschiedlichen Funktionen. Natürlich ist klar, dass die Spitzenkandidaten alle Freiheiten haben und auch alle Unterstützung brauchen. Die Bundesvorsitzenden wissen sehr genau, dass man in Wahlkampfzeiten kein vielstimmiges Orchester brauchen kann. Ich hoffe, dass es uns auch angesichts aller medialen Aufgeregtheiten gelingt, einen Bundestagswahlkampf zu führen, der sich wirklich um Inhalte dreht. Der die Frage beantwortet, wie Deutschland am Ende der nächsten Bundestagsperiode aussehen soll. Das ist etwas, was zurzeit in der Großen Koalition in Berlin komplett fehlt.

"Nicht-Wahl von Fritz Kuhn kein Beinbruch"

tagesschau.de: Fritz Kuhn ist gestern bei den Wahlen für den Parteirat gescheitert. Stattdessen sind neue, junge Grüne in das Gremium gewählt worden. Gibt es bei den Grünen einen Generationswechsel?

Al-Wazir: Die Nicht-Wahl von Fritz Kuhn hatte nichts mit einem Generationswechsel zu tun. Mit Fritz Kuhn und Gerhard Schick haben zwei Männer aus Baden-Württemberg kandidiert, die auch beide noch im Bundestag sitzen. Die liefen dann faktisch gegeneinander. Der Unterschied von sechs Stimmen hat das ja auch gezeigt. Das Ergebnis ist aus meiner Sicht deshalb eher unglücklich. Aber es war bestimmt kein bewusstes Herauswählen von Fritz Kuhn. Wir sollten das Ergebnis nicht überbewerten. Das wird auch der Bedeutung des Parteirats nicht gerecht. Ich fand die Entscheidung unglücklich, aber sie ist auch kein Beinbruch.

Die Spitzengremien der Grünen

BUNDESVORSTAND: Der Bundesvorstand führt die Geschäfte der Partei und vertritt sie nach innen und außen. Ihm gehören neben den zwei Vorsitzenden, die politische Geschäftsführerin, der Bundesschatzmeister und zwei Beisitzer an. Mindestens die Hälfte der Vorstandsmitglieder müssen Frauen sein, davon mindestens eine Vorsitzende. Die Amtszeit beträgt zwei Jahre.

PARTEIRAT: Der Parteirat koordiniert die Arbeit von Bundespartei, Fraktionen, Regierungsmitgliedern und Landesverbänden. Er kann auch Beschlüsse fassen und hat 16 Mitglieder. Per Amt gehören dem Parteirat die beiden Parteichefs und die politische Geschäftsführerin an. Die restlichen Mitglieder werden vom Parteitag gewählt. Mindestens die Hälfte von ihnen müssen Frauen sein. Auch dieses Gremium wird für zwei Jahre gewählt. Wie beim Bundesvorstand ist eine Wiederwahl möglich.

"Kein Bindestrichdebatte"

tagesschau.de: Hat die Neubesetzung des Bundesvorstandes auch einen Einfluss auf mögliche Koalitionsoptionen der Grünen?

Al-Wazir: Es muss im fünf Parteiensystem so sein, dass mehr Koalitionsmöglichkeiten gedacht werden können, als die klassischen Konstellationen "Schwarz-Gelb" und "Rot-Grün". Ich bin mir zwar nicht sicher, ob die Linkspartei dauerhaft im Parteiensystem etabliert sein wird. Aber für die nächste Bundestagswahl ist sie sicherlich noch von Bedeutung. Deswegen muss man eben auch Neues denken. Wichtig ist aber, dass das nicht nur als sterile Bindestrichdebatte daherkommt. Also Rot-Grün-Rot, Jamaika, Ampel oder ich weiß nicht was.

Am Ende haben wir als Grüne nur eine einzige Chance. Nämlich ganz klar zu machen, dass wir mit allen gesprächsfähig sind. Aber Ende entscheidet aber immer die Frage der Inhalte. Wir müssen bei den anstehenden Wahlen so stark werden, dass an unseren Inhalten niemand vorbeikommt. Dann schauen wir, wie die reale Situation aussieht und entscheiden dann, ohne grüne Inhalte zu verraten. Das ist auch unsere Strategie für die kommende Landtagswahl in Hessen.

Das Interview führte Niels Nagel, tagesschau.de