AKW-Stresstest der EU in der Analyse Die Mär von den sicheren deutschen Reaktoren

Stand: 05.10.2012 11:12 Uhr

Die deutschen Atomkraftwerke haben laut einem EU-Stresstest erhebliche Sicherheitslücken. Dabei wurden nicht einmal alle wichtigen Fragen zur Sicherheit untersucht. Und der Test lief nur auf dem Papier ab - meist ohne Inspektionen vor Ort. Klar wird: Die Mängel deutscher Reaktoren haben System.

Von Martin Gent, WDR

Es war ein Kampf um Worte und zuletzt ein Kampf um Kreuzchen. Um die jetzt vorliegende Fassung des Ergebnisberichtes muss bis zuletzt gerungen worden sein. Denn ein paar Kreuzchen in einer langen Tabelle entscheiden darüber, ob ein EU-Mitgliedsstaat seine Kernkraftwerke im Griff hat oder eben eher nicht - und außerdem, in welchen Feldern millionenschwere Nachrüstungen empfohlen werden.

Jedes Kreuzchen in der Ergebnistabelle treibt die Nachrüstkosten in die Höhe. Wegen des Wirbels hinter den Kulissen und zusätzlicher Prüfungen verzögerte sich der Abschlussbericht. Im Internet ist er inzwischen zu finden, offiziell veröffentlicht wurde er aber immer noch nicht. EU-Energiekommissar Günther Oettinger will ihn Mitte Oktober den Staats- und Regierungschefs präsentieren.

Mängelliste wiegt schwer

14 EU-Mitgliedsstaaten betreiben Atomkraftwerke, an insgesamt 64 Standorten stehen 145 Reaktorblöcke, von denen 134 derzeit in Betrieb sind. Insgesamt listet der Report 264 Mängel auf. Nur das slowenisch-kroatische Kernkraftwerk Krško kann als sicher gelten, zumindest konnte es allen Stresstest-Kriterien standhalten.

Das Ergebnis muss beunruhigen, zumal vorab der Verdacht bestand, dass der Stresstest eine Art Alibi-Veranstaltung ist, die für die Betreiber gewiss glimpflich ausgeht. Nach den vorliegenden Ergebnissen ist das Gegenteil der Fall. Durchschnittlich vier gravierende Sicherheitsmängel an jedem Standort, das muss zu denken geben.

Risse sind kein Stresstest-Thema

Dabei hat der Stresstest sich mit vielen sicherheitsrelevanten Fragen gar nicht beschäftigt. Bei einem Sicherheitscheck dieser Art geht man davon aus, dass im normalen Betrieb alles perfekt funktioniert. Risse im Reaktordruckbehälter, wie sie jetzt in belgischen Kernkraftwerken gefunden wurden, sind kein Thema im Stresstest, auch nicht Ärger mit klemmenden Brennelementen oder ausgefallene Kühlwasserpumpen.

Im Stresstest wurde allein geprüft, wie ein Kraftwerk gegen extreme Naturereignisse - Erdbeben und Hochwasser - ausgelegt ist und wie ein möglicher Unfall beherrscht wird - aus welcher Ursache auch immer er passiert.

Lücken im Prüfkatalog

Letztlich geht es darum, ob ein Atommeiler ein überraschendes Ereignis abwehren oder beherrschen kann. Wichtig ist zum Beispiel, dass es eine unabhängige gebunkerte Notwarte gibt, von der aus der Reaktor gesteuert werden kann. Auch muss die Notfallausrüstung - zum Beispiel Dieselgeneratoren - so sicher untergebracht sein, dass sie auch nach einem Erdbeben noch eingesetzt werden kann. Ganz besonders wichtig ist eine ausreichende Notstromversorgung. Ein AKW braucht immer Kühlwasser und dazu immer Strom für die Kühlwasserpumpen und die Leittechnik. Weiterhin müssen Vorkehrungen gegen Wasserstoffexplosionen und Überdruck im Sicherheitsbehälter getroffen werden.

Diese Kriterien wurden im Rahmen des Stresstests abgefragt. Alle denkbaren Störfall-Szenarien sind damit aber nicht erfasst. Im "Stresstest" der deutschen Reaktorsicherheitskommission vom Mai 2011 wurde zum Beispiel noch der Schutz gegen Flugzeugabstürze berücksichtigt, der Report verweist hier auf Einzelberichte. Umweltverbände fordern zudem Checks bezüglich terroristischer Angriffe, alternder Technik und Evakuierungsplänen.

Es kann nicht sein, was nicht sein darf

Von den 64 Kraftwerksstandorten in Europa wurden überhaupt nur 23 von Inspektoren besucht, in Deutschland ganze zwei. Aber auch dabei dürften keine Ultraschallgeräte, Diagnosestecker oder Messinstrumente zum Einsatz gekommen sein, sondern der bloße Augenschein. Tatsächlich lief der Stresstest zum allergrößten Teil auf dem Papier ab.

Kritik gab es auch an den neun deutschen Kernkraftwerken. Alle haben Defizite, wenn es darum geht, einen sehr schweren "auslegungsüberschreitenden" Störfall zu beherrschen. Jedenfalls gibt es dafür keine ausreichenden Management-Systeme. Der Grund könnte sein, dass man nach der deutschen Sicherheitsphilosophie mit entsprechenden Ereignissen nicht rechnete. Seit Fukushima weiß man aber, dass es Dinge gibt, die zuvor niemand für möglich hielt.

Manchem Kraftwerk könnte zum Beispiel ein schweres Erdbeben gefährlich werden. Die Reaktoren Brockdorf an der Elbe, Grafenrheinfeld am Main, Grohnde an der Weser und Isar am gleichnamigen Fluss sind nach Ansicht der Prüfer nicht in ausreichendem Maß gegen Erdbeben ausgelegt. An allen Standorten fehlen zudem hinreichende Erdbebenmesssysteme.

Bedenken zur Erdbebensicherheit bestätigt

Die Deutsche Presseagentur zitierte am Montag einen Sprecher von Bundesumweltminister Peter Altmaier. Die Erdbebensicherheit sei "bisher nicht beanstandet worden bei Kernkraftwerken in Deutschland." Tatsächlich sagt der Bericht der Reaktorsicherheitskommission vom Mai 2011 etwas anderes. Danach können die schlechten Stresstest-Ergebnisse nicht wirklich überraschen. Der RSK-Bericht hatte viele Mängel zutage gefördert, besonders zum Erdbeben- und Hochwasserschutz. Das betraf ausdrücklich auch die neun noch in Betrieb befindlichen Reaktoren, die schrittweise erst 2015, 2017, 2021 und 2022 vom Netz gehen sollen.

Zwar hatten die nach dem Moratorium dauerhaft abgeschalteten acht Kernkraftwerke noch mehr kritische Sicherheitslücken. Deshalb sind die noch in Betrieb befindlichen Atommeiler aber nicht zwangsläufig "sicher". Ein nennenswertes Restrisiko bleibt, wie auch der neue Stresstest zeigt. Er räumt auf mit dem Vorurteil, dass deutsche Kernkraftwerke die sichersten der Welt seien. Nach der Zahl der Mängel sortiert landen die deutschen Meiler zwar in der ersten Hälfte der Tabelle, ganz vorn stehen aber Kernkraftwerke aus Osteuropa, nämlich aus Slowenien, Ungarn und Litauen.

Frankreich bei Mängelrügen Spitze

Frankreich hingegen kommt eher auf die Abstiegsplätze. Selbst das beste französische Kernkraftwerk ist schlechter als der Durchschnitt und kassiert fünf Mängelrügen, die schlechtesten am Ende der Tabelle sogar sieben. Frankreich ist Kernenergieland Nummer Eins in Europa. Kein anderes Land hat sich in diesem Maße vom Atomstrom abhängig gemacht. 54 Reaktorblöcke listet der Stresstest auf, und überall gibt es erheblichen Nachrüstbedarf.

Die schlechte Botschaft scheint - auch wegen eines eigenen, nationalen Stresstests - bei der Regierung angekommen zu sein. Auch Frankreich traut nicht mehr uneingeschränkt der Energie aus dem Atom. Der sozialistische Präsident François Hollande will den Atomstromanteil von heute rund 75 Prozent bis 2025 auf unter 50 Prozent drücken und das nahe der deutschen Grenze gelegene AKW Fessenheim vorzeitig Ende 2016 vom Netz nehmen.

Schwedisches AKW schürt Sorgen

Besonders beunruhigend sind die Ergebnisse der Kraftwerke Forsmark in Schweden und Olkiluoto in Finnland. Insgesamt sind hier fünf Reaktorblöcke installiert, von denen vier nicht einmal einen einstündigen Stromausfall sicher überbrücken können sollen. Nach WDR-Recherchen haben die Techniker in Forsmark sogar nur 35 Minuten Zeit, um die absolut notwendige Stromversorgung wieder herzustellen. Da könnte ein Störfall schnell als Katastrophe enden.

Die Mängeltabelle der EU macht transparent, dass es bei der Sicherheit so was wie nationale Muster gibt. Deutsche Reaktoren haben keine Notfallmanagementsysteme, britische keine gebunkerten Notwarten, französische patzen beim Schutz vor Erdbeben. Hier zeigen sich die Grenzen nationaler Souveränität und nationaler Sicherheitskonzepte. Sie vermitteln eine trügerische Sicherheit, obwohl Atomunfälle nie eine nationale Angelegenheit bleiben werden.

Von den 65 europäischen AKW-Standorten liegen nach Zählung der EU-Kommission 47 in dicht besiedelten Gebieten mit mehr als 100.000 Einwohnern in 30 Kilometer Umkreis. Viele Standorte liegen in Grenznähe, sodass bei einem Unglück zwangsläufig die Nachbarn betroffen sind.

Komplizierte Konsequenzen

Der Stresstest wird zuerst kritische Nachfragen und darauf folgend teure Nachrüstungen provozieren. Pro Reaktorblock müssen nach Ansicht der EU-Kommission zwischen 30 und 200 Millionen Euro investiert werden. Insgesamt ist die Rede von zehn bis 25 Milliarden Euro.

Seitdem die Ergebnisse öffentlich geworden sind, wird aber auch die Abschaltung besonders unsicherer Reaktoren gefordert. Bei manchem dürfte sich eine teure Nachrüstung allein aus wirtschaftlichen Gründen auch kaum lohnen. Freilich: Nachrüstungen vorschreiben kann die EU nach derzeitiger Rechtslage nicht. Vieles regelt die Union, doch gerade in Fragen der Atomsicherheit haben die Mitgliedsstaaten den Hut auf.

Endgültiger Stresstest-Report unterscheidet sich von Vorab-Version

Kein AKW ohne Verbesserungsbedarf

Im Unterschied zur bekannt gewordenen Vorab-Version werden in dem von EU-Kommission veröffentlichten Stresstest-Report für jedes Land, das Kernreaktoren betreibt, konkrete Empfehlungen gegeben. Erwähnung finden auch "good practices", also vorbildliche Sicherheitskonzepte.

Die Ergebnistabelle listet nicht nur 64 Reaktorstandorte, sondern alle 145 Reaktorblöcke auf. Ein genauerer Blick zeigt, dass kein einziger Reaktor ohne Sicherheitsmängel ist. Überall sehen die Inspektoren Verbesserungsbedarf, auch beim slowenischen Kernkraftwerk Krško. Vermerkt ist auch, wenn zu einem Mangel bereits Verbesserungen geplant sind, wie zum Beispiel beim niederländischen Kernkraftwerk Borssele in allen vier beanstandeten Punkten.

Beanstandungen wegdiskutiert?

Insgesamt hat die Zahl der Mängelrügen zwischen Vorab- und Endversion - auf die Standorte bezogen - von 264 auf 200 abgenommen, besonders auffällig ist die Abnahme in Frankreich von 114 auf 70. Hier zeigt sich, dass offenbar tatsächlich um jedes Kreuzchen gerungen wurde und es vielfach auch eine Frage der Interpretation ist, ob man einen Mangel aufführt oder nicht. Das betrifft auch die Frage, ob der Stresstest Anlass zur Abschaltung von Kernkraftwerken gibt.

Abschalten eine Frage der Interpretation

Der Begleittext der Endversion könnte das nahe legen. Denn bei Siedewasserreaktoren in Olkiluoto (Finnland) und Forsmark (Schweden) droht schon nach 30 bis 40 Minuten ohne Strom ein Überhitzen des Reaktorkerns. Andererseits soll gerade bei diesen Reaktoren die Notstromversorgung verbesserungsbedürftig sein. Kritisiert wird auch, wenn mehrere Reaktoren an einem Standort stehen und in den Störfallkonzepten der gleichzeitige Ausfall mehrerer Reaktoren nicht vorgesehen ist - ein zentrales Problem in Fukushima.

Einfach nach Zahl der beanstandeten Punkte sortiert, stehen die am wenigsten sicheren Reaktoren in Finnland (Olkilouto), in der Tschechischen Republik (Dukovany) und in Rumänien (Cernavoda). Mit nur einer Beanstandung schneiden der rumänische Reaktorstandort Paks und das inzwischen abgeschaltete Kernkraftwerk Ignalina in Litauen am besten ab. Für ein wirkliches Ranking müssten jedoch weitere Punkte berücksichtigt werden.

Verengte Perspektive auf Kernkraftwerke

Dabei ist es durchaus sinnvoll, auch abgeschaltete Reaktoren im Stresstest zu berücksichtigen. Sie bergen nämlich weiterhin ein Risiko. Darum wird in dem Papier auch positiv hervorgehoben, dass der nationale belgische Stresstest nicht nur in Betrieb befindliche Kernkraftwerke unter die Lupe nahm, sondern auch Brennelementefabriken, Atommüll-Behandlungsanlagen und Zwischenlager sowie Forschungseinrichtungen. Im EU-Stresstest spielte das keine Rolle, wie schon nicht im Bericht der deutschen Reaktorsicherheitskommission vom Mai 2011.