Fragen und Antworten Unbegrenzter EZB-Staatsanleihenkauf?

Stand: 17.06.2015 00:07 Uhr

Der EuGH hat das EZB-Staatsanleihenkaufprogramm "Outright Monetary Transactions" gebilligt. Das Bundesverfassungsgericht hatte entsprechende Klagen an ihn weitergereicht. ARD-Rechtsexperte Frank Bräutigam erklärt, worum es genau geht.

Von Frank Bräutigam, ARD-Rechtsredaktion

Worum geht es in dem Verfahren?

Es geht um den Ankauf von Staatsanleihen durch die Europäische Zentralbank  (EZB). Im Juli 2012 hatte EZB-Präsident Draghi angekündigt, seine Bank werde alles tun, was nötig ist, um die europäische Schuldenkrise zu lösen ("Whatever it takes"). Am 6. September 2012 trat Draghi in Frankfurt vor die Presse. Er kündigte ein Programm mit Namen "Outright Monetary Transactions" (OMT) an. Der Inhalt: Die EZB werde im Notfall auf dem sog. "Sekundärmarkt", also auf den Finanzmärkten, in unbegrenzter Höhe Staatsanleihen von Krisenstaaten aufkaufen. Dazu druckt sie Geld in der nötigen Menge. So werde an den Anleihemärkten den Spekulanten der Boden entzogen. Die Folge: sinkende Zinsen, für die sich die Krisenstatten frisches Geld besorgen können. Als Gegenleistung müssten sich die Staaten unter den Rettungsschirm ESM begeben (was mit Bedingungen verknüpft ist, zum Beispiel bestimmte Reformen anzugehen). Der Ankauf könne in unbegrenzter Höhe stattfinden, so Draghi. Bislang wurde das OMT-Programm nicht umgesetzt. Die Grundsatzfrage hinter dem Rechtsstreit lautet: Welche rechtlichen Grenzen muss die unabhängige EZB beachten? Und wie intensiv ist das von den Gerichten kontrollierbar?

In welchem Kontext fand die Ankündigung der EZB 2012 statt?

Im Mittelpunkt stand 2012 zunächst die Gründung des dauerhaften europäischen Rettungsschirms ESM. Gegen die deutsche Beteiligung am ESM wurden im Juni 2012 Klagen beim Bundesverfassungsgericht eingereicht. Die Nervosität war groß. Würde an Karlsruhe die Eurorettung scheitern? Für den 12. September war die Entscheidung im Eilverfahren angekündigt. Wenige Tage zuvor am 6. September kam dann die Pressekonferenz Draghis zum umstrittenen Staatsanleihen-Programm. Da konnte schnell der Eindruck entstehen: egal, welche Grenzen beim ESM Ihr einfordert, liebe deutsche Richter, wir jedenfalls werden in unbegrenzter Höhe auf den Märkten eingreifen.

Das Bundesverfassungsgericht hat später die deutsche Beteiligung am ESM im Prinzip gebilligt. Mit einer Ausnahme: Das umstrittene OMT-Programm könnte nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichts gegen die europäischen Verträge verstoßen, weil die EZB dadurch die ihr zugewiesenen Aufgaben überschreite. Diese rechtliche Frage hat Karlsruhe ausgeklammert und dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) in Luxemburg vorgelegt.

Warum können einzelne Bürger vor Gericht gegen Maßnahmen der EZB vorgehen?

Insgesamt wird die Klage vor dem Bundesverfassungsgericht von rund 37.000 deutschen Bürgern unterstützt. Der EuGH reiht sich allerdings nicht in den klassischen "Instanzenzug" ein. Wer also als Bürger vor dem Bundesverfassungsgericht verliert, kann nicht einfach selbst nach Luxemburg ziehen. Zum EuGH kommt man als einzelner Bürger nur über den „Umweg“ der nationalen Gerichte. Wenn für die Entscheidung Vorschriften aus dem Europarecht relevant sind, müssen die nationalen Gerichte dem EuGH die Fragen dazu vorlegen. Luxemburg entscheidet dann, wie das EU-Recht zu verstehen ist, und gibt den Fall ans nationale Gericht zurück, das abschließend entscheidet. Auch andere wichtige Verfahren wie das "Recht auf Vergessenwerden" bei Google oder die Vorratsdatenspeicherung sind so nach Luxemburg gekommen.

Was sind die rechtlichen Fragen beim Ankauf von Staatsanleihen durch die EZB?

Laut Grundgesetz (Artikel 88 Absatz 2) darf Deutschland die Aufgaben der Notenbank der Europäischen Zentralbank übertragen, die unabhängig und dem vorrangigen Ziel der "Preisstabilität" verpflichtet ist. Die EZB ist unabhängig, die Regierungen haben also keinen direkten Einfluss auf ihr Handeln. Aber natürlich ist sie an die Aufgaben gebunden, die ihr die europäischen Verträge zuweisen (Artikel 119 ff.). Rechtlich geht es daher um die Frage, ob die EZB ihre Kompetenzen überschreitet, also etwas tut, für das sie nach den Europäischen Verträgen gar nicht zuständig ist. Aufgabe der EZB ist: die Geldpolitik, mit dem Ziel, eine stabile Währung mit stabilen Preisen zu gewährleisten. Nicht erlaubt ist dagegen: Wirtschaftspolitik und Staatsfinanzierung durch die EZB, also die Finanzierung der Haushalte einzelner (überschuldeter) Staaten. Die Frage ist nun: In welchen Bereich fällt der Ankauf von Staatsanleihen am Sekundärmarkt? Erlaubt oder verboten? Außerdem enthält der EU-Vertrag ein Verbot für die EZB, einzelne Staaten zu finanzieren. Dagegen habe die EZB verstoßen, sagen die Kläger.

Was ist die Ansicht des Bundesverfassungsgerichts?

Für das Bundesverfassungsgericht sprechen in seinem Beschluss vom 7. Februar 2014 gewichtige Gründe dafür, dass die EZB ihr Mandat der Geldpolitik mit dem OMT-Programm überschreitet. Ein Indiz sei, dass die EZB nur Staatsanleihen einzelner Mitgliedsstaaten ankaufen würde. Geldpolitik betreffe typischerweise aber alle Staaten gleich. Außerdem sehen sie folgende Gefahr: Hilfsprogramme wie der Europäische Rettungsschirm ESM seien der Höhe nach begrenzt, außerdem hätten die Parlamente hier Kontrollfunktionen. Bei einem Ankauf von Staatsanleihen durch die unabhängige EZB könnten diese Kontrollmechanismen umgangen werden. Zweiter Kritikpunkt: Das OMT-Programm verstoße gegen den Grundsatz der EU-Verträge, dass die EZB keine Staatsfinanzierung betreiben dürfe. Allerdings lässt Karlsruhe auch ein „Hintertürchen“ offen. Der Beschluss der EZB sei möglicherweise dann nicht zu beanstanden, wenn man gewisse Grenzen einziehen würde. Als Beispiel nennt das Gericht: den Ausschluss eines Schuldenschnitts, einen Ankauf von Staatsanleihen nur in begrenzter Höhe, und dass es keinen Eingriff in den Marktpreis der Staatsanleihen gebe.

Warum hat Karlsruhe das Verfahren ausgesetzt und dem Europäischen Gerichtshof vorgelegt?

Grundsätzlich gilt die Aufgabenteilung: Bundesverfassungsgericht prüft deutsche Rechtsakte am Maßstab des Grundgesetzes – Europäischer Gerichtshof (Luxemburg) prüft europäische Rechtsakte am Maßstab der europäischen Verträge. Allerdings hat Karlsruhe sich immer die abschließende Kontrolle vorbehalten, ob Institutionen der EU ihre Befugnisse in einzelnen Fällen deutlich überschreiten. Im Juristenjargon heißt das dann, sie könnten „ultra vires“ handeln. Um so eine Prüfung geht es hier bei der Frage, ob die EZB entgegen ihrem Auftrag Staaten finanziert hat oder nicht. Würde sie ihr Mandat evident überschreiten, wäre das nicht mehr von den Kompetenzen gedeckt, die Deutschland auf die EU-Institutionen übertragen hat. Allerdings hat Karlsruhe auch immer gesagt: sollte man einmal zu dem Ergebnis „ultra vires“ kommen, würde man die Rechtsfragen dem EuGH zur Prüfung vorlegen, damit das für Europarecht zuständige Gericht die Fragen behandeln kann. Das ist nun  – erstmals in der Geschichte des Bundesverfassungsgerichts – passiert. An anderen Gerichten, etwa dem Bundesgerichtshof, sind solche Vorlagen seit vielen Jahren Gang und Gäbe. Ebenso an anderen Verfassungsgerichten der EU-Staaten.

"Kapituliert" Karlsruhe damit vor dem EuGH?

Die Vorlage ist erst einmal ein Zeichen der Öffnung. Jahrelang hatte man nur über das "Kooperationsverhältnis", der Gerichte nur geredet, jetzt hat man zum ersten Mal ernst gemacht. Über Europarecht entscheidet der EuGH, so ist das rechtlich vorgesehen. Es war eher ungewöhnlich, dass Karlsruhe so lange gebraucht hat, andere Verfassungsgerichte von EU-Staaten waren da schneller. Den Vorlagebeschluss mit seinen Fragen kann man aber durchaus auch als Herausforderung an die Kollegen in Luxemburg verstehen, denn die Meinung, dass die EZB ihre Kompetenzen überschreitet, ist recht deutlich formuliert. Gleichzeitig zeigen die Richter aber auch Korrekturmöglichkeiten auf, nach dem Motto: "Das ist unsere Rechtsauffassung, wir sehen Möglichkeiten, wie man das reparieren kann, geht Ihr darauf ein oder nicht?" Man kann fast den Eindruck bekommen, Karlsruhe möchte Luxemburg zu einer Entscheidung "ja, aber" herausfordern. Ja, der Ankauf von Staatsanleihen ist möglich, aber folgende Grenzen sind zwingend. Solche "ja, aber"-Entscheidungen hat Karlsruhe selbst in europäischen Fragen schon oft gesprochen.

Was hat der EuGH grundsätzlich entschieden?

Der EuGH hat auf die Karlsruher Fragen geantwortet, dass das angekündigte OMT-Programm nicht gegen Europarecht verstößt. Er sortiert das Programm in die Schublade "Geldpolitik" ein, für die die EZB nach den Verträgen zuständig ist. Das Verbot der Staatsfinanzierung ist für den EuGH ein zentraler Grundsatz, der auch keinesfalls umgangen werden dürfe. Die Garantien im "Kleingedruckten" des OMT-Programms würden aber sicherstellen, dass es im konkreten Fall nicht zu einem Verstoß gegen das Verbot komme.

Warum ordnet der EuGH das OMT-Programm als Geldpolitik ein?

Das Gericht räumt der EZB zunächst einen weiten Ermessensspielraum ein. Ein wichtiges Kriterium für den EuGH ist das von der EZB angegebene Ziel ihres Programms. Und das lautet: Preisstabilität gewährleisten, in diesem Fall bei den Zinsen von Staatsanleihen. Das Gericht scheint dabei mehr Gewicht auf die von der EZB selbst definierten Ziele zu legen als auf die möglichen Effekte. Dass das Programm auch geeignet ist, die Eurozone zu stabilisieren, sei in diesem Fall unschädlich. Solche "mittelbaren Auswirkungen" reichten nicht aus, um aus einer geldpolitischen eine wirtschaftspolitische Maßnahme zu machen.

Setzt der EuGH der EZB überhaupt keine Grenzen?

Doch. Die EZB habe die Pflicht, ihre Entscheidungen zu begründen. Das Verbot für die EZB, Haushalte von Krisenstaaten zu finanzieren, scheint für die Richter große Bedeutung zu haben. Dieses Verbot dürfe auch nicht umgangen werden. Der Ankauf von Staatsanleihen soll nicht die gleiche Wirkung haben wie ein direkter Ankauf von Anleihen. Die Beteiligten dürften sich nicht zu sicher sein, dass die EZB am Ende eingreift. Deshalb müsse es zum Beispiel eine Mindestfrist zwischen der Ausgabe der Anleihe und dem Ankauf durch die EZB geben. Auch dürfe die EZB ihre Ankäufe nicht vorher ankündigen. Solche und andere Garantien hat die EZB aber bereits in ihr Programm aufgenommen. Darauf nagelt der Gerichtshof sie durch sein Urteil quasi fest. Dahinter steht der Gedanke, dass die EZB den Krisenstaaten nicht den Anreiz nehmen soll, eine "gesunde Haushaltspolitik" zu verfolgen.

Fordert der EuGH eine Obergrenze beim Volumen des Ankaufs?

Nein. Er verweist aber auf den Vortrag der EZB im Gerichtsverfahren, dass es wegen einiger Besonderheiten der aufzukaufenden Staatsanleihen rein faktisch um ein begrenztes Volumen geht.

Hat Karlsruhe damit auf ganzer Linie "verloren"?

Das wäre wohl ein wenig zu einfach. Fest steht allerdings, dass Karlsruhe und Luxemburg in zentralen Fragen unterschiedlicher Ansicht sind. Mit der Linie des Generalanwaltes, der in seinen Schlussanträgen noch mehr Bedingungen als der EuGH gefordert hatte, hätte man in Karlsruhe sicher besser leben können als mit dem Urteil. Der Generalanwalt hatte zum Beispiel noch die Forderung aufgestellt, dass die EZB bei anderen Hilfsprogrammen nicht mehr direkt mitmachen dürfe, falls das OMT-Programm einmal umgesetzt werde. Der ein oder andere Punkt des Urteils wird den Richtern durchaus Bauchschmerzen bereiten. Andererseits führt das Verfahren insgesamt sicher auch zu einem stärkeren Bewusstsein für die rechtlichen Probleme rund um die EZB-Programme. Schon das kann ein gewisser Wert an sich sein.

Wird Karlsruhe die Antwort aus Luxemburg akzeptieren?

Grundsätzlich entscheidet der EuGH bindend darüber, wie das Europarecht auszulegen ist, ob also die EZB gegen europäisches Recht verstößt oder nicht. Allerdings hat das Bundesverfassungsgericht in vergangenen Entscheidungen immer wieder angekündigt, sich auch inhaltlich ein "letztes Wort" vorzubehalten, wenn der EuGH mit seiner Rechtsprechung aus Karlsruher Sicht seine Kompetenz einmal deutlich überschreiten würde. Gewisse Schnittmengen zwischen den Entscheidungen sind bei allen Unterschieden durchaus vorhanden. Das könnte Raum für Kompromisse bieten. Bei einem öffentlichen Auftritt hat Verfassungsrichter Peter Huber angedeutet, man werde jede "vertretbare Entscheidung" akzeptieren. Das deutet eher nicht darauf hin, die eigene Rechtsansicht in jedem Punkt um jeden Preis durchsetzen zu wollen. Genau wissen wird man dies aber erst nach der abschließenden Entscheidung aus Karlsruhe, die es frühestens Anfang 2016 geben dürfte.

Hat Karlsruhe die rechtlichen Mittel, der EZB direkt etwas untersagen?

Nein. Dafür wäre der EuGH zuständig. Karlsruhe hätte die Möglichkeit, einen Rechtsverstoß feststellen und die deutschen Akteure (Bundestag, Bundesregierung, Bundesbank) zu verpflichten, auf einen Stopp solcher Programme auf europäischer Ebene möglichst intensiv hinzuwirken oder bei den Programmen gar nicht mitzumachen. Man könnte den deutschen Staatsorganen quasi als Mittelweg auch Auflagen zu den Punkten machen, in denen beide Gerichte übereinstimmen.

Die EZB hat doch im Januar 2015 angekündigt, in großem Stil Staatsanleihen zu kaufen. Welche Unterschiede gibt es zwischen diesem und dem OMT-Programm?

Das EZB-Programm "Quantitive Easing" vom 22. Januar 2015 hat das Ziel, bis Ende September 2016 Staatsanleihen aller Euro-Staaten im Wert von bis zu einer Billion anzukaufen. Es ist wichtig, dieses Programm vom OMT-Beschluss zu trennen, um den es im aktuellen Klageverfahren geht. Ein wesentlicher Unterschied liegt in einem unterschiedlichen Ziel, das die EZB definiert. Bei "Quantitive Easing" soll es laut EZB darum gehen, eine "Deflation" zu vermeiden. Darum fällt es zumindest leichter, das Programm als erlaubte Geldpolitik zu qualifizieren. Anderslautende Vorwürfe und Kritik gibt es trotzdem zuhauf. Auch Klagen sind bereits angekündigt. Völlig unabhängig voneinander sind beide Blöcke aber auch nicht. Denn es spricht viel dafür, dass die EZB bei "Quantitive Easing" schon einige der Kritikpunkte aus dem langen Rechtsstreit rund um "OMT" berücksichtigt hat, um auf Nummer sicher zu gehen. Und die grundsätzlichen Fragen nach dem Umfang richterliche Kontrolle stellen sich in allen Konstellationen.