Wahlunterlagen in Hamburg
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Hamburg Schmutzkampagne im Wahlkampf

Stand: 04.02.2020 08:37 Uhr

Ein Kandidat der Linkspartei sorgt im Hamburger Wahlkampf für Verwirrung - erst durch einen Holocaust-Vergleich, nun durch Gerüchte über Politiker und Klimaaktivisten. Steckt eine Strategie dahinter?

Von Patrick Gensing und Konstantin Kumpfmüller, ARD-faktenfinder

Drei Wochen vor der Wahl zur Hamburger Bürgerschaft sorgt ein Kandidat der Linkspartei für Aufsehen. Der 18-jährige Tom Radtke kandidiert auf Platz 20 der Landesliste der Partei, eigentlich aussichtslos, um in die Bürgerschaft einzuziehen. Doch mittlerweile dürfte der Schüler weit bekannter sein als die meisten anderen Kandidatinnen und Kandidaten.

Radtke hatte am internationalen Holocaust-Gedenktag am 27. Januar durch Äußerungen in sozialen Netzwerken für Empörung gesorgt: Er verglich die Auswirkungen des Klimawandels mit dem staatlich-organisierten Massenmord an den Juden. Dieser Tweet wurde scharf kritisiert, die Linkspartei distanzierte sich sofort und kündigte den Ausschluss von Radtke an.

Diverse Medien berichteten über den Vergleich, auch überregional. "Die Welt" interviewte Radtke dazu. Zahlreiche rechte Blogs griffen die Angelegenheit auf und werteten Radtkes Äußerungen als Beleg dafür, dass Fridays for Future (FFF) totalitäre Züge habe bzw. antisemitisch sei.

Radtke war nach eigenen Angaben bei FFF in Hamburg aktiv, wie lange und in welcher Rolle genau, ist unklar. Er selbst behauptet, er habe FFF mit aufgebaut und sei Systemadministrator gewesen. FFF selbst distanzierte sich mehrfach von Radtke und erklärte, er habe dort keine große Rolle gespielt.

Gezielte Provokationen

Der Holocaust-Vergleich war aber nur der Auftakt zu weiteren gezielten Provokationen. So kündigte Radtke nun Enthüllungen an - unter anderem über die Klimaaktivistin Luisa Neubauer, den "Grünen Sumpf" bei FFF sowie über angeblichen Kindesmissbrauch im Kontext mit Klimaschützern und einem Hamburger SPD-Bundestagsabgeordneten.

Diese Ankündigungen eines bis dahin vollkommen unbekannten Kandidaten griffen wiederum diverse große Medien auf. In rechtsradikalen Blogs und Videos wurde von "Pädophile bei Fridays for Future und SPD" geraunt. Zehntausende Nutzer sahen sich entsprechende Beiträge an.

Bizarrer Stream am Samstagabend

In einem Stream auf der Plattform Twitch wollte Radtke dann die Beweise auspacken und zudem über seinen Holocaust-Vergleich sprechen; mehr als 13.000 Nutzer warteten am Samstagabend aber vergeblich auf die angekündigten Enthüllungen.

Radtke behauptete in dem Stream, sein Anwalt habe ihm vorerst abgeraten, sich zu äußern. Und statt zu dem Holocaust-Vergleich Stellung zu beziehen, spielte Radtke live eine Kriegssimulation, in der er die Rolle des Deutschen Reichs übernahm. In dem Chat zu dem Stream wurden zugleich zahlreiche rechtsextreme und rassistische Kommentare gepostet; Nutzer forderten Radtke erfolglos auf, dagegen vorzugehen.

Attacke auf Linken-Politiker

Zudem verbreitete Radtke einen teilweise geschwärzten Steuerbescheid des Linken-Politikers Fabio de Masi mit dem Hashtag #Radtkeleaks. Allerdings hatte der Hamburger Bundestagsabgeordnete dieses Dokument zuvor selbst veröffentlicht - zur Transparenz.

Außerdem verbreitete der 18-Jährige Gerüchte über das Privatleben des Politikers. De Masi kündigte im Gespräch mit dem ARD-faktenfinder an, er werde Anzeige wegen übler Nachrede stellen.

Radtke nutzte die Aufmerksamkeit in den Medien und sozialen Netzwerken, um einen weiteren Stream anzukündigen. Darin behauptete er, die Klimaaktivistin Luisa Neubauer schicke ihm hin und wieder Audionachrichten. Neubauer betonte auf Anfrage, sie kenne den 18-Jährigen nicht. Der präsentierte Audio-Mitschnitt stamme mutmaßlich aus einem Podcast.

Radtke reagierte zwar nicht auf Anfragen des ARD-faktenfinder, veröffentlichte aber mittlerweile auf seiner Seite einen kurzen Chat-Ausschnitt. Dieser soll zeigen, dass er Neubauer eine Frage geschickt hatte, die sie offenbar mit einer kurzen Sprachnachricht beantwortete. Zudem beleidigte er Neubauer auf Twitter.

Gehackte Seite der Linksjugend

Am Sonntagabend warf Radtke der Linkspartei dann falsche Angaben vor. So gebe es gar kein Ausschlussverfahren gegen ihn, behauptete er auf Twitter, und bezog sich dabei auf Angaben der "Linksjugend Solid Hamburg".

Tatsächlich hatte die Facebook-Seite "Linksjugend Solid Hamburg" kurz zuvor ein entsprechendes Posting veröffentlicht, mit weiteren grotesken Behauptungen zum Klimawandel und Holocaust. Doch der Bundesverband der Linksjugend stellte umgehend klar, dass diese Seite kein offizieller Account sei. Gegenüber dem ARD-faktenfinder sagte eine Sprecherin, man habe seit Monaten keinen Zugriff auf die Seite, sie sei auch lange nicht aktiv gewesen.

Aus Kreisen der Linkspartei heißt es, die Seite sei lange von einem Mann verwaltet worden, der enge Kontakte nach Russland pflegt. Dieses Mitglied der Linkspartei war beispielsweise im Donbass zu Besuch und ließ sich dort mit dem "Staatsoberhaupt" der "Volksrepublik Donezk" fotografieren. Ob das Mitglied der Linkspartei noch Zugriff auf die Seite hat, ist unklar.

Rechtsradikale feiern Radtke

Rechtsradikale fordern mittlerweile "Gerechtigkeit für Radtke". So beispielsweise ein führender Aktivist der "Identitären" aus Österreich, der vor einer "Pädolobby" warnt. Dies erinnert, wenn auch in einem kleineren Maßstab, an die Verschwörungstheorie von einem "Pizza-Gate" im US-Wahlkampf 2016. Radtke hat es auf jeden Fall geschafft, eine Anschuldigung zu verbreiten, die nun in sozialen Medien und größeren Medien kursiert - ohne jeden Beleg.

Was Radtke mit dem Streuen von Anschuldigungen und Gerüchten bezweckt, bleibt vorerst unklar. Einige Beobachter vermuten, er habe persönliche Probleme, andere spekulieren, er wolle gezielt FFF, Grünen, SPD und Linkspartei schaden.

Möglicherweise will sich Radtke durch gezielte Provokationen bekannt machen, um bei der Wahl seine Chancen zu vergrößern. Denn das Hamburger Wahlrecht lässt es zu, dass einzelne Bewerberinnen oder Bewerber auch von den hinteren Listenplätzen in die Bürgerschaft gewählt werden können. Radtke selbst hat bislang nicht auf Anfragen reagiert.

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete NDR 09,3 am 28. Januar 2020 um 16:00 Uhr.