Stimmen werden gezählt

Verfassungsreform in der Türkei Auf dem Weg in die Autokratie?

Stand: 17.04.2017 09:40 Uhr

Am Sonntag haben die türkischen Wähler über eine grundlegende Verfassungsänderung in ihrem Land entschieden. Die Anhänger von Präsident Erdogans AKP versprechen sich von dem neuen Präsidialsystem mehr Stabilität - wirtschaftlich und politisch. Kritiker hingegen warnen vor einer "Ein-Mann-Herrschaft".

Von Von Christoph Tanneberger, tagesschau.de und Nele Pasch, SWR

"Seid Ihr für Stabilität, für Ruhe und Frieden?" Der türkische Ministerpräsident und AKP-Chef Binali Yildirim steht in der Oberhausen-Arena in Nordrhein-Westfalen. Auf den Rängen sitzen rund 8000 Menschen, etliche von ihnen schwenken türkische Flaggen. "Dann gebt eine Antwort, die ganz Europa, die die ganze Welt hören kann!", sagt Yildirim. Und: "Auf einem Schiff kann es nicht zwei Kapitäne geben!"

Mit Slogans wie diesem haben in den vergangenen Monaten Politiker der Regierungspartei AKP in der Türkei und im Ausland für die geplante Verfassungsreform geworben. Über den Ausgang des Volksentscheids ist in der Türkei inzwischen ein Disput entbrannt. Laut türkischer Wahlkommission hat Präsident Erdogan den Volksentscheid knapp für sich entschieden. Die Opposition zweifelt jedoch die Rechtmäßigkeit der Abstimmung an und will das Ergebnis nach eigenen Angaben anfechten.

Sollten die geplante Verfassungsänderungen in Kraft treten, werden sie dem Staatsoberhaupt deutlich mehr Macht geben: Der Präsident soll die Kompetenzen des bisherigen Ministerpräsidenten mit übernehmen, künftig Minister berufen und entlassen und die Regierungsgeschäfte führen. Er könnte per Dekret regieren und seinen Einfluss auf die Justiz ausweiten. Das Amt des Ministerpräsidenten hingegen entfiele ganz. Das Parlament wäre zwar noch für die Gesetzgebung zuständig, würde aber auch zentrale Befugnisse einbüßen. Allerdings werden Dekrete des Präsidenten unwirksam, wenn das Parlament in dem jeweiligen Bereich ein Gesetz verabschiedet.

Befürworter: Reform bringe Stabilität

Befürworter der Verfassungsreform argumentieren, bislang habe sich kaum eine türkische Regierung lange im Amt halten können. Sie fordern mehr wirtschaftliche und politische Stabilität für ihr Land. Bülent Bilgi ist Generalsekretär der Union Europäisch-Türkischer Demokraten (UETD), die Organisation steht der AKP nahe: "Mit dem Zuwachs an Kompetenzen kann eine Regierung endlich effektiv über eine Wahlperiode hinweg regieren und sich nicht mehr selbst lähmen."

In AKP-Kreisen hat man für die Vergangenheit Koalitionsregierungen als Schuldige identifiziert. Wirtschaftsminister Nihat Zeybekci verspricht, diese "Krankheit" werde sich nach dem Referendum nicht mehr fortpflanzen.

Nach dem Putschversuch im vergangenen Jahr möchte man den Staat auch vor einem weiteren Eingriff durch das Militär schützen: "Grundsätzlich werden mit der Verfassungsreform ausgeklügelte Bevormundungsmechanismen alter Machteliten Geschichte - in Bürokratie, Justiz und vor allem im Militär", sagt Mustafa Yeneroglu, AKP-Abgeordneter, gegenüber dem ARD-faktenfinder.

Kritiker warnen vor "Ein-Mann-Herrschaft"

Kritiker hingegen bezweifeln, dass die geplanten Änderungen noch durchweg rechtsstaatlichen Prinzipien folgen und warnen vor einer "Ein-Mann-Herrschaft". Christian Rumpf hat die türkische Verfassung ins Deutsche übersetzt und ist Anwalt. Ihm fehlen die "Checks and balances", die Kontrollmechanismen, die es im amerikanischen und französischen Präsidialsystem gebe.

Besonders kritisch sieht der Honorarprofessor für türkisches Recht die Verschmelzung des Amtes des Präsidenten mit der Institution des Ministerrats. "Die Minister werden auf den Status politischer Beamter reduziert. […] Es entscheidet nicht mehr das Kabinett als Rat, der schon in sich ein kleines Stück Demokratie lebt, sondern eben der Präsident", schreibt er in einer Stellungnahme.

"Gefährlicher Rückschritt für die Demokratie"

Zudem sagt Rumpf, die Gewaltenteilung werde durch die geplanten Verfassungsänderungen aufgeweicht. So könne das türkische Parlament den Staatspräsidenten nicht mehr hinreichend kontrollieren. In der gültigen Verfassung habe es noch das Recht, der Regierung ihr Misstrauen auszusprechen und sie zu entlassen: "Selbst wenn das Misstrauensvotum als Instrument selten eingesetzt wird, animiert diese Möglichkeit Parlament und Regierung, miteinander im Gespräch zu bleiben und sich zu einigen. Das fällt jetzt weg", sagt Rumpf. Die auf Verfassungsfragen spezialisierte "Venedig-Kommission" des Europarats hat dazu ausführlich Stellung bezogen und spricht von einem "gefährlichen Rückschritt für die Demokratie".

Mehr Einfluss auf Justiz

Aus AKP-Kreisen ist zu hören, die Justiz sei mit der neuen Verfassung nicht nur unabhängig, sie schreibe auch vor, dass sie "unparteiisch" sein müsse. Für Anwalt Rumpf sind solche Formulierungen Augenwischerei. Eine unparteiische Justiz - für ihn eine Selbstverständlichkeit. Er befürchtet vielmehr, dass der Präsident seinen Einfluss auf die Justiz nach einem "evet", einem Ja für die neue Verfassung ausweiten könne.

Ein Wahlzettel mit den türkischen Wörtern für "Ja" (Evet) und "Nein" (Hayir)

Ein Wahlzettel mit den türkischen Wörtern für "Ja" (Evet) und "Nein" (Hayir)

Denn nach dem Verfassungsentwurf kann der Präsident künftig vier der 13 Mitglieder des Rats der Richter und Staatsanwälte bestimmen. Das Gremium ist unter anderem für die Ernennung von Richtern und Staatsanwälten zuständig. Das Parlament bestimmt sieben weitere. Feste Mitglieder bleiben aber der Justizminister und sein Staatssekretär, die auch der Präsident auswählt. Bislang bestimmen Richter und Staatsanwälte die Mehrheit des derzeit noch 22-köpfigen Rates. "Das hat mit Rechtsstaatlichkeit nicht mehr viel zu tun", sagt Rumpf.

Präsident und Parteipolitiker

Eine weitere zentrale Änderung: der Präsident muss die Verbindungen zu seiner Partei nicht mehr abbrechen. Er dürfte sogar ein Parteiamt übernehmen und ihr Vorsitzender sein. Die AKP argumentiert, der Präsident könne dadurch künftig einen engeren Kontakt zum Volk halten. Die Experten der "Venedig-Kommission" befürchten eine Beeinflussung der Legislative. Auch für Anwalt Rumpf gefährde diese Machtfülle die Demokratie. Dem Präsidenten stünden "die Apparate einer starken Partei und des Staates direkt und persönlich, ohne Kontrolle durch Minister oder Parlament, zu Gebote".

Hohe Hürden für Amtsenthebung und Neuwahlen

Manche argumentieren, die Macht des Präsidenten werde auch eingeschränkt. Zum Beispiel könne das Parlament gegen den Präsidenten nicht nur wie bislang wegen Hochverrats ermitteln, sondern künftig auch wegen anderer Straftaten. In der Praxis sind die Hürden allerdings hoch. Allein für den ersten Schritt, eine Untersuchung gegen den Präsidenten im Parlament, müsste eine einfache Mehrheit der Abgeordneten stimmen. Wahrscheinlich sind solche Mehrheiten schwierig zu erzielen, sofern der Präsident die größte Partei im Parlament zugleich führt. Für Anwalt Rumpf ist daher das weiterhin bestehende Verfassungsgericht das effektivste Kontrollorgan für die Dekrete des Präsidenten.

Neuwahlen können sowohl der Präsident als auch das Parlament ausrufen. Das Parlament benötigt dafür allerdings eine Dreifünftel-Mehrheit. Allerdings müssen sich in beiden Fällen Präsident und Parlament erneut zur Wahl stellen - unabhängig davon, welche Seite die Neuwahl beantragt hat.

Türkische Gesellschaft ist verunsichert

Trotzdem erfährt die Verfassungsreform viel Zuspruch in der Türkei. Nach Umfragen liegen das "Ja"- und das "Nein"-Lager in etwa gleich auf. Atila Karabörklü, Vizechef der Türkischen Gemeinde in Deutschland, erklärt sich das so: "Die türkische Gesellschaft ist durch den Putsch enorm verunsichert. Hinzu kommen die Kriege im Umland und der Terror des sogenannten IS. Diese politisch angespannte Lage verunsichert viele Türken. So dass sie das Gefühl haben: Wir brauchen ein funktionierendes Staatssystem. Erdogan verspricht genau das. Viele sehen in ihm eine Stabilitätsfigur." Trotzdem hofft Karabörklü darauf, dass seine Landsleute die Verfassungsänderung am Sonntag ablehnen. "Für mich wäre das das Ende der Gewaltenteilung."

Mit Informationen der Nachrichtenagentur dpa.

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete tagesschau24 am 15. April 2017 um 15:00 Uhr.