Smartphone mit Hinweis aus Twitter-App vor türkischer Flagge
faktenfinder

Türkei Fakten gegen Propaganda 

Stand: 13.03.2021 20:14 Uhr

In der Türkei kämpft ein Faktencheck-Portal gegen die zunehmende Zahl von Fehlinformationen im Netz. Auch die Presse wird verstärkt unter die Lupe genommen und Staatspropaganda mit Fakten widerlegt.

"In Zeiten, in denen es starke Gefühlsschwankungen gibt, in denen Wut, Panik oder Angst herrschen, glauben Menschen öfter an falsche Informationen", so die trockene Feststellung von Gülin Çavuş. Sie ist Chefredakteurin von "Teyit", auf Deutsch "Verifikation", ein Faktencheck-Portal aus der Türkei. In Zeiten der Covid-19-Pandemie hat das Team viel zu tun, auch in der Türkei sind zahlreiche Fehlinformationen zum Virus oder den Impfungen im Umlauf. 

Das Team von Gülin Çavuş und ihrem Mitgründer Mehmet Atakan Foça umfasst insgesamt 23 Personen. Sie arbeiten in Vollzeit und sind über das ganze Land verteilt. Büros gibt es in Ankara und Istanbul, derzeit arbeiten die meisten Mitarbeiter im Homeoffice. Angefangen hat alles ganz klein, vor etwa vier Jahren. "Die Idee entstand zwischen 2015 und 2017. Es gab damals einige Bombenanschläge und so weiter, und viele Falschinformationen waren in Umlauf", erzählt Çavuş. 

Die Faktenchecker gleichen Daten, Behauptungen, Prognosen ab, verifizieren Bilder und Videos. So können sie Meldungen meist schnell als wahr oder falsch einstufen. Derzeit sprechen sie oft auch mit Medizinern und Wissenschaftlern. So auch im Fall eines Videos, das vergangenes Jahr in vielen türkischen WhatsApp-Gruppen kursiert. Es zeigt einen deutschen Arzt, der erklärt, Ergebnisse von PCR-Tests seien zu 50 Prozent fehlerhaft. Teyit gleicht Daten und Aussagen mit anderen wissenschaftlichen Quellen ab, interviewt Experten und nimmt auch Recherchen von Medien wie der "New York Times" in die Auswertung mit auf. Ergebnis: Die Aussage stimmt nicht. 

Faktenprüfung nach WhatsApp-Meldung

Inzwischen gibt die Onlineplattform auch einen eigenen Covid-19-Newsletter heraus, rund 15.000 Abonnenten nutzen das Angebot bereits. "Jeden Tag erreichen wir mehr Menschen. Außerdem bekommen wir täglich Dutzende Botschaften, in denen uns Menschen mitteilen, wie froh sie darüber sind, dass es uns gibt", erzählt Chefredakteurin Gülin Çavuş. Per WhatsApp können User die Faktenprüfer direkt erreichen und "verdächtige Meldungen" zur Prüfung weiterleiten. 

Generell fokussiere sich Teyit auf die sozialen Medien. Immer öfter prüfe man jedoch auch Meldungen und Artikel türkischer Print- oder TV-Medien, dort seien zahlreiche Fehlinformationen unterwegs, so Çavuş. "Wir sind ein Land, in dem es eine starke Polarisierung gibt, und das beeinflusst auch die Medien." Ein Großteil der türkischen Presse gilt zudem als regierungsnah, betonen Medienexperten regelmäßig. Staatlich verordnete Propaganda gehöre zur Tagesordnung. 

Erdogan-Äußerung widerlegt

So widerlegte Teyit in der Vergangenheit auch diverse Meldungen regierungsnaher Medien zum Thema Wirtschaft. Mehrere Zeitungen hatten beispielsweise berichtet, die Türkei zähle laut der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) mittlerweile zu den Ländern mit hohem Bruttonationaleinkommen. Diese Behauptung hatte der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan während einer öffentlichen Rede geäußert. Die Faktenchecker widerlegten das Ganze. 

Besonders gefragt ist Teyit auch in Zeiten des Wahlkampfes, was in der Türkei zuletzt 2019 der Fall war. Dabei achte man darauf, Balance zu halten, in dem man gleichermaßen Aussagen von und über Politiker unterschiedlicher Parteien unter die Lupe nehme. Dennoch hagelt es immer wieder Anfeindungen, erzählt Çavuş: "Manche Menschen versuchen, uns als parteiisch darzustellen. Doch wir verifizieren nach internationalen Standards und sind der Ansicht, dass wir damit einen Beitrag für die Stärkung der Pressefreiheit leisten." 

Unabhängigkeit ist innerhalb der türkischen Medienlandschaft das A und O. Ein Großteil der Presse gehört zu großen Konzernen und Holdings, die unter anderem im Energie- und Bausektor aktiv sind und enge Verbindungen in die Politik besitzen. Die Plattform Teyit legt ihre Finanzierung auf der Internetseite offen. Zu den Geldgebern gehören mitunter NGOs und Stiftungen, so etwa auch die den Grünen nahestehende Heinrich-Böll-Stiftung. "Für uns ist es wichtig, verschiedenen Einnahmequellen zu haben", erklärt Gülin Çavuş. Man wolle nicht abhängig sein. 

Faktencheck auf Facebook

Seit einiger Zeit prüft Teyit Meldungen auch im Auftrag von Facebook auf deren Wahrheitsgehalt, als Teil eines internationalen Verifizierungsprogramms des Social-Media-Riesens. Wie in vielen Ländern ist das auch in der Türkei von enormer Wichtigkeit: In einer Umfrage des Reuters Institutes gab fast die Hälfte aller Befragten in der Türkei an, sich via Facebook über Nachrichten zu informieren. 

Die Faktenchecker aus der Türkei wollen nicht nur Unwahrheiten aufdecken, ihr Ansatz geht mittlerweile darüber hinaus. Das Team bietet Workshops an: Sie richten sich an Journalisten, Studierende, Menschenrechtler und auch an ganz normale User, erklärt Chefredakteurin Çavuş: "Wir sind der Ansicht, dass kritisches Lesen von digitalem Inhalt ein wichtiges Werkzeug ist, um die weiter steigende Polarisierung im Land zu verhindern."