Menschen gehen in der Innenstadt von Teheran unter einem riesigen Wandgemälde von Ayatollah Ruhollah Khomeini (r.) und Ayatollah Ali Khamenei (l.) entlang.
Kontext

Desinformation des Regimes "Im Iran glaubt kaum jemand den Staatsmedien"

Stand: 11.03.2023 10:39 Uhr

Seit Monaten protestieren zahlreiche Menschen im Iran gegen die Regierung. Durch die starke Zensur im Land ist die Berichterstattung darüber schwer. Und auch in den sozialen Netzwerken wird die Propaganda des Regimes verbreitet.

Von Pascal Siggelkow, ARD-faktenfinder

"Wie hat es die iranische Nation geschafft, die jüngsten Unruhen in diesem Land zu beenden?", lautet die Überschrift eines Videos der iranischen Nachrichtenagentur IRNA, veröffentlicht am 30. September 2022. Zu sehen sind regierungsfreundliche Kundgebungen mit offenbar zahlreichen Teilnehmern. Die iranische Nationalflagge wird geschwenkt, auch das Konterfei des geistlichen Führers Ayatollah Ali Khamenei ist auf Plakaten zu erkennen. Das Video suggeriert: Das Volk steht hinter dem iranischen Regime, die Proteste sind überwunden.

Dabei sieht die Realität an jenem Tag ganz anders aus: Mindestens 82 Menschen wurden nach Angaben der Menschenrechtsorganisation Amnesty International alleine in der Provinz Sistan und Belutschistan von iranischen Sicherheitskräften getötet - der 30. September geht als "blutiger Freitag" in die Geschichte ein. Seit Beginn der Proteste im vergangenen September sind laut der Human Rights Activists News Agency im Iran mindestens 530 Menschen getötet worden.

Protestierende werden als "Kakerlaken" bezeichnet

In den iranischen Staatsmedien hingegen wird ein vollkommen anderes Bild der Proteste gezeichnet, sagt Farhad Payar, Chefredakteur des Iran Journals. "Die Protestierenden werden als Vasallen der imperialistischen Mächte des Westens dargestellt, die verführt worden sind von den westlichen Medien." Die "Riots" (auf deutsch: Aufstände), wie die Proteste von den Staatsmedien genannt werden, würden hauptsächlich auf "irregeführte Jugendliche" reduziert werden, die nicht wüssten, was sie tun.

Der Politikwissenschaftler Ali Fathollah-Nejad sieht in der Berichterstattung iranischer Staatsmedien mit Blick auf die Proteste die Fortführung alter Narrative: "Es sind immer Proteste, die vom Ausland gesteuert werden, durch Feinde. Diese Feinde werden gemeinhin definiert durch die USA oder Israel. Mithin kommt auch Saudi-Arabien hinzu. Und das ist eine absolute Externalisierung jeglicher Verantwortung." Das Regime habe alle größeren Straßenproteste der vergangenen Jahre als ein Versuch des Auslands dargestellt, die sogenannte Islamische Revolution im Iran zu zerstören.

Ein neues Narrativ bei den derzeitigen Protesten sei, dass sie vom kurdischen Separatismus getrieben seien, um eine Abspaltung der kurdischen Gebiete zu erlangen. Die Protestierenden würden zudem oft mit sehr despektierlichen Begriffen konnotiert, sagt Fathollah-Nejad. "Sie werden manchmal als Kakerlaken bezeichnet oder als Hooligans."

Pressefreiheit im Iran extrem eingeschränkt

Dass es im Iran selbst kaum Medienberichte mit anderen Ansichten zu den Protesten gibt, hat mit der Medienlandschaft zu tun. In fast keinem anderen Land werden die Medien derart zensiert, die Nichtregierungsorganisation Reporter ohne Grenzen stuft den Iran in der Rangliste der Pressefreiheit auf Platz 178 von 180 ein. Der Iran gehöre "zu den repressivsten Ländern weltweit für Journalist*innen. Hunderte wurden dort seitdem strafverfolgt, inhaftiert oder hingerichtet." Medien unterlägen "systematischer staatlicher Kontrolle, das Internet wird umfassend zensiert, überwacht und, etwa während regierungskritischer Demonstrationen, immer wieder für längere Zeit abgeschaltet".

Den Erfolg dieser staatlichen Medienkontrolle schätzt die Journalistin und Autorin Gilda Sahebi jedoch als überschaubar ein. "Im Iran glaubt kaum jemand den Staatsmedien", sagt sie. "Die meisten Menschen wissen, dass dort nur Propaganda verbreitet wird." Stattdessen würden Informationen über ausländische Medien oder die sozialen Netzwerke eingeholt werden - trotz Zensur.

"Die iranische Gesellschaft ist schon seit Jahrzehnten darin geübt, die Regeln der Islamischen Republik zu umgehen", sagt Sahebi. "Es gibt das Alkoholverbot, also brennen sie Alkohol zu Hause. Es gibt das Verbot, ausländisches Fernsehen zu gucken, also haben sie Satellitenschüsseln auf den Dächern. Es gibt das Verbot, Instagram und Twitter zu nutzen, also nutzen sie VPNs." Die Abkürzung VPN steht für "virtuelles privates Netzwerk". Mithilfe von VPNs können beispielsweise regionale Internetsperren umgangen werden, da die eigene IP-Adresse durch die des VPN-Servers ersetzt wird.

Propaganda wird im Ausland teilweise übernommen

Ein größeres Problem ist aus Sicht der Experten, dass im Ausland die iranische Propaganda nicht immer als solche erkannt wird. So komme es immer wieder vor, dass die Sichtweise des Regimes sich auch in westlichen Medienberichten wiederfinde - auch mit Blick auf die Proteste.

Bei dem Jahrestag der iranischen Revolution Mitte Februar war in vielen westlichen Medien von zehntausenden Anhängern die Rede, die diesen Tag gefeiert hätten. Bilder und Videos in den sozialen Netzwerken erweckten jedoch einen ganz anderen Eindruck: So waren demnach an einigen Orten deutlich weniger Menschen auf den Straßen, als es die Berichte suggerierten. Zudem berichten Menschen in weiteren Videos davon, gezwungen worden zu sein, an den Feierlichkeiten teilzunehmen.

Anfang Dezember vergangenen Jahres wiederum machte die Nachricht die Runde, die sogenannte Sittenpolizei im Iran werde aufgelöst - was als vermeintliches Zugeständnis des Regimes gegenüber den Protestierenden interpretiert werden konnte. Allerdings gibt es die "Sittenpolizei" bis heute. "Es werden immer wieder gezielt Nebelkerzen gezündet, um vor allem den westlichen Ländern einen Reformwillen vorzugaukeln", sagt Sahebi. "Und das hat auch jahrelang funktioniert."

Dabei habe sich die Situation im Land für die Menschen überhaupt nicht gebessert - im Gegenteil. "Es ist härter geworden", sagt Sahebi. "Ein Entgegenkommen gibt es da nicht." Zum Beispiel hat die iranische Generalstaatsanwaltschaft die Polizei angewiesen, Verstöße gegen die Kopftuchpflicht strikt zu bestrafen.

Das iranische Regime versucht jedoch nicht nur, die inländischen Medien zu kontrollieren. Auch ausländische Journalisten könnten nicht frei aus dem Land berichten, sagt Payar. "Sobald ein Journalist mehrmals nicht so berichtet, wie es der Regierung gefällt, wird er ausgewiesen oder das Visum nicht verlängert." Das Regime würde die Iran-Berichterstattung der ausländischen Medien genau beobachten.

Diese Erfahrung hat auch die ARD-Korrespondentin Katharina Willinger gemacht. Monatelang musste sie nach Beginn der Proteste warten, um ein temporäres Visum für den Iran zu bekommen. Zudem erhielt sie die Auflage, die Hauptstadt Teheran nicht verlassen zu dürfen. Auch ein Kopftuch musste sie tragen.

Iran will sich vom Internet abkapseln

Auch das Internet ist dem iranischen Regime ein Dorn im Auge. Bereits im Jahr 2012 wurde bekannt, dass die Regierung ein landesweites Intranet aufbauen möchte, um sich vom Internet abzukoppeln und so zu verhindern, dass unliebsame Informationen die Bevölkerung erreichen können. Zudem gibt es die iranische Cyber-Polizei FATA, die regimekritische User im Netz ausfindig macht. Die meisten sozialen Netzwerke funktionieren nur eingeschränkt oder sind ganz verboten - ranghohe Regierungsmitglieder sind hingegen auf Twitter und Co. vertreten.

Zudem seien viele pro-iranische Accounts in den sozialen Netzwerken unterwegs, die nicht sofort als solche zu erkennen sind, sagt Nava Zarabian, Bildungsreferentin an der Bildungsstätte Anne Frank. Sie sollen das Land und die Proteste in ein anderes Licht zu rücken. "Diese Accounts verbreiten die klassischen Narrative des Regimes. Deutsche Influencer sind zu der Hochphase der Hinrichtungen in den vergangenen Wochen in den Iran geflogen und haben von dort Videos gepostet mit dem Inhalt: Wir haben hier nichts gesehen, es ist alles in Ordnung."

Besonders in islamistischen Kreisen werden laut Zarabian pro-iranische Narrative verbreitet. "Proteste gegen das iranische Regime, besonders in Europa, werden dort als antimuslimischer Rassismus dargestellt, um sie zu diskreditieren und Anschluss an größere Gruppen zu finden. Deshalb werden von ihnen oft auch antiimperialistische Inhalte geteilt." Durch die gezielt gestreuten Falschmeldungen sei es sehr schwierig, sich in den sozialen Netzwerken einen Überblick über die Situation im Iran zu machen.

Ob die "Cyberis" - wie die pro-iranischen Accounts von den Protestierenden genannt werden - dafür bezahlt werden, lässt sich nicht beweisen. "Iranische User nutzen den Begriff 'Cyberis', um auf Profile aufmerksam zu machen, die die Narrative des Regimes verbreiten." So versuchten die Protestierenden, sie zu enttarnen und auf deren Agenda hinzuweisen. "Wichtig ist, zu verstehen, dass es eine Ideologie ist, die vom iranischen Regime verbreitet wird. Und diese Ideologie reicht bis nach Deutschland."

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete das Erste am 29. Januar 2023 um 18:30 Uhr im "Weltspiegel".