Auf Plakaten, die bei einer Anti-Corona-Demo in Berlin hochgehalten werden, sind Politiker und der Virologe Drosten abgedruckt.
Jahresrückblick

Corona-Verschwörungslegenden Neue Dimension der Desinformation

Stand: 29.12.2020 16:26 Uhr

Corona hat 2020 das Leben dominiert und eine neue Dimension der Desinformation ausgelöst. Als das Virus noch nicht in Europa wütete, kursierten Behauptungen, die Gefahr werde verharmlost. Dann setzte sich die Erzählung vom "großen Schwindel" durch.

Von Patrick Gensing, Redaktion ARD-faktenfinder

Vor fast genau einem Jahr tauchten erste Meldungen über eine rätselhafte Lungenkrankheit in China auf. Es dauerte nicht lange, bis religiöse Fanatiker erste Untergangsszenarien und krude Erklärungen lieferten: Geistliche aus Tunesien und Ägypten behaupteten beispielsweise, China werde durch die Epidemie bestraft für den Umgang mit den Uiguren.

Im Irak verbreitete ein politischer Kommentator die These, bei der Epidemie handele es sich um ein amerikanisch-jüdisches Komplott. Ziel sei es, die Weltbevölkerung zu dezimieren.

Doch dies war nur der Auftakt für einen globalen Siegeszug von Verschwörungslegenden, die allesamt einer identischen inneren Logik folgen: Eine kleine Minderheit steuere Politik, Medien und Wissenschaft, so der Mythos, um einen finsteren Plan zu realisieren. Alle Verschwörungslegenden funktionieren nach diesem Prinzip - und sie knüpfen nahtlos an antisemitische Mythen wie die gefälschten "Protokollen der Weisen von Zion" an. Daher sprechen Fachleute von einer antisemitischen Struktur - auch wenn sich die Legende nicht explizit gegen Juden richtet.

Rechtsextreme forderten härtere Maßnahmen

In Deutschland war die Stoßrichtung im Frühjahr noch eine ganz andere: So wurde behauptet, die Gefahr werde verharmlost, Politik und Medien würden das tatsächliche Risiko bewusst klein reden. Das rassistische Portal "PI-News" textete Anfang April: "Merkelland: Mehr Corona-Kranke als China!" Die bislang "1100 Corona-Toten sind Merkels Tote", so der Vorwurf. Die Presse rede die Situation zudem schön.

Das rechtsextreme "Compact-Magazin" lobte Mitte März noch, dass in Italien 60 Millionen Bürger unter Quarantäne stünden. Im Gegensatz dazu, kritisierte "Compact", plädiere Merkel "für Maß und Mitte". Mit anderen Worten: Die Kanzlerin sollte offenbar drastischere Maßnahmen einleiten. Im April war in dem Magazin dann plötzlich von einer "Corona-Diktatur" in Deutschland die Rede. Ausführlich wurden Stimmen zitiert, denen zufolge das Virus "nicht besonders gefährlich" sei. Und auf "PI-News" wird immer wieder berichtet, wie "das Volk gegen die Corona-Diktatur" kämpfe.

Die berüchtigte Fake-News-Seite "Anonymousnews Russland" legte der Kanzlerin das frei erfundene Zitat in den Mund, offene Grenzen seien wichtiger als Menschenleben. Doch die Resonanz bleibt im Vergleich zu früheren ähnlichen Beiträgen überschaubar, wie eine Auswertung zeigt. Die Flüchtlingspolitik eignete sich in einer weltweiten Gesundheitskrise nicht mehr als Sündenbock. 

AfD forderte drastische Maßnahmen

Auch die AfD warf der Bundesregierung zunächst vor, Deutschland nicht zu schützen. Alice Weidel hatte Ende Februar Bundesgesundheitsminister Jens Spahn vorgehalten, die Gefahr zu verharmlosen. Die Sterblichkeitsrate bei Corona sei zehn mal höher als bei der Grippe. AfD-Politiker behaupteten zudem, Klimaaktivisten würden keine Rücksicht auf ältere Menschen nehmen und so zur Verbreitung von Corona beitragen. Dazu teilten sie Bilder, die aus dem Kontext gerissen wurden und somit gezielt irreführend waren.

Doch die Strategie brachte keinen Erfolg - es folgte ein radikaler Kurswechsel, die sich formierende Bewegung der "Corona-Skeptiker" gab die Stichworte vor, die politischen Rechtsaußen folgten. Zunehmend war davon zu lesen, Corona sei bestenfalls so gefährlich wie eine Grippe oder sogar ein kompletter Schwindel, der auf Bill Gates zurückgehe. Fachleute beobachteten, wie Rechtsextreme immer öfter bei Protesten mitmischten.

Verschiedene "Corona-Skeptiker" wurden zu Anführern und Stichwortgebern einer neuen Bewegung und radikalisierten sich in atemberaubender Geschwindigkeit. Antisemitische Hetze und Beleidigungen dokumentierten ihren Fanatismus. Schon bald kursierten Aufrufe zur Gewalt und sogar zum bewaffneten Kampf. Verschiedene Elemente aus bereits bekannten Verschwörungslegenden tauchten im Kontext von Corona wieder auf, beispielsweise der Mythos von entführten Kindern, die in unterirdischen Gefängnissen gefoltert würden.

Trump als Treiber der Desinformation

Ein Treiber der Desinformation war US-Präsident Donald Trump, der immer wieder Falschmeldungen zur Pandemie verbreitete. Auch die QAnon-Bewegung spielte in diesem Kontext eine große Rolle, ihre Symbole tauchten auch bei Demonstrationen in Deutschland auf.

Die Verbreitung der Falschmeldungen und Gerüchte lässt sich kaum messen, da viele in Messenger-Diensten kursierten. Doch einige Zahlen zeigen, wie enorm das Phänomen ist: Allein Facebook löschte innerhalb von drei Monaten sieben Millionen Beiträge. Dennoch blieben viele irreführende Inhalte weiterhin online - obwohl sie widerlegt worden waren.

Eskalation in Berlin und Leipzig

Bei Massenprotesten in Berlin und Leipzig gingen dann Zehntausende Menschen auf die Straßen. Gezielt wurden Falschinformationen über die Zahl der Teilnehmenden verbreitet, um die Relevanz der Proteste zu überhöhen. Zudem stürmten Demonstranten zum Eingang des Bundestags, angestachelt von Fake News, wonach US-Präsident Trump in Berlin sei, um die Macht zu übernehmen, oder dass Polizisten "übergelaufen" seien. Offenkundig glaubten zahlreiche Protestierende tatsächlich, es gebe einen Umsturz.

Die AfD tritt zunehmend wie der parlamentarische Arm dieser Bewegung auf. Sie erntete scharfe Kritik, nachdem Gäste der Fraktion im Bundestag Politikerinnen und Politiker bepöbelt und bedrängt hatten.

Bei einer "Querdenken"-Demonstration in Leipzig eskalierte Anfang November die Gewalt, Rechtsextreme attackierten Journalistinnen und Reporter sowie Polizeikräfte. Die Bewegung gerät zunehmend ins Visier der Sicherheitsbehörden.

Mehr Angst vor einer Stoffmaske als vor dem Virus

Mittlerweile ist Deutschland wieder im Lockdown, Tausende Menschen sind an dem Coronavirus gestorben, Krankenhäuser sind an ihrem Limit. Doch die "Corona-Skeptiker" relativieren oder leugnen die Gefahr durch das Virus bis heute. Alltagsmasken hingegen werden zu einem angeblich potenziell tödlichen Risiko gemacht. So wurden gezielt Falschmeldungen verbreitet, wonach Kinder durch das Tragen von einem einfachen Mund-Nasen-Schutz gestorben seien.

Auch die Impfstoffe gegen Covid-19 werden durch abenteuerliche Behauptungen als große Gefahr für die Gesundheit dargestellt: Von Genveränderungen und Unfruchtbarkeit bei Frauen ist die Rede, und sogar Krebs solle ein Vakzin auslösen können, heißt es. Doch all diese Thesen sind weder belegt, noch stichhaltig.

Und so zeichnet sich ab, dass das Virus im kommenden Jahr möglicherweise besiegt werden könnte, wenn die Impfstoffe wirken. Doch die Langzeitschäden durch Verschwörungslegenden als simples Erklärungsmuster für komplexe Phänomene dürften die Gesellschaft noch weiter beschäftigen.

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete Deutschlandfunk am 09. Dezember 2020 um 19:18 Uhr.