Interview

Brasilien zum Ende der Fußball-WM "Die Verzückung ist weg"

Stand: 11.07.2014 10:50 Uhr

Die Fußball-WM nähert sich dem großen Finale. Hat sie Brasilien verändert? Das Land hat von der WM profitiert, meint der Journalist Fischermann gegenüber tagesschau.de. Doch die Unzufriedenheit ist groß. Der Opposition könnte das bei den nächsten Wahlen den Sieg bringen.

tagesschau.de: Überwiegt zum Ende der Fußball-WM die Begeisterung über zum Teil tolle Spiele oder die Trauer über das eigene Ausscheiden?

Thomas Fischermann: Der Zauber, der seit Beginn des WM im ganzen Land zu spüren war, ist verflogen. Die Begeisterung ist einer großen Ernüchterung gewichen. Vor Beginn der WM gab es ja recht wenig Euphorie. Die Fähnchen wurden eher pflichtbewusst aufgehängt. Mit dem ersten Spiel der brasilianischen Mannschaft änderte sich das dann schlagartig. Die Menschen ließen sich verzücken vom Fußball, der traditionell in dem Land eine große Bedeutung hat. Nun wurde dieser Schleier der Verzückung, der viele Missstände überdeckt hat, weggezogen. Viele Brasilianer wollen nur noch, dass die WM endlich vorbei ist. Es gibt aber auch Brasilianer, die fair sind und mit Freude die letzten Spiele verfolgen.

Zur Person

Thomas Fischermann studierte Ökonomie und Politik. Er war Korrespondent in London und New York, und leitet seit 2013 das Südamerika-Büro der ZEIT mit Sitz in Rio de Janeiro.

tagesschau.de: Es gab Proteste im Vorfeld gegen die vielen Investitionen, die in die WM flossen statt in soziale Projekte. Gibt es solche Proteste nicht mehr oder wird nur nicht mehr darüber berichtet?

Fischermann: Es gibt die täglichen Proteste noch, es gab sie durchgehend in den vergangenen Wochen. Sie sind aber mit 50 bis 100 Teilnehmern sehr klein. Die brasilianischen Medien ignorieren dies vollständig. Und auch die ausländischen Medien wollen während der WM lieber Spielberichte und positive Stimmungsbilder zeigen statt deprimierende Sozialreportagen.

Viele Armenviertel haben von den Investitionen zur WM profitiert

tagesschau.de: Wie ist die Situation in den Armenvierteln Brasiliens - sind Verbesserungen durch den Schwung der WM zu erwarten?

Fischermann: Es ist ja sehr viel investiert worden für diese WM. Man muss allerdings die Dimensionen ein bisschen gerade rücken. Was in Stadien und Infrastruktur investiert wurde, beläuft sich auf weniger als ein Prozent der Investitionen, die der Staat insgesamt getätigt hat. Es ist viel Sinnvolles entstanden wie zum Beispiel eine bessere Straßen-Anbindung für viele Armenviertel, eine bessere Flughafen-Anbindung. Man kann darüber streiten, ob man das Geld besser in Krankenhäuser und Schulen als in Stadien hätte stecken sollen. Andererseits wäre wohl ohne die WM gar nicht investiert worden.

tagesschau.de: Was ist aus den Favelas geworden, die dicht an den Stadien lagen?

Fischermann: Viele wurden plattgemacht wie zum Beispiel eine große Favela direkt neben dem Maracana-Stadion, wo am Sonntag das Endspiel sein wird. Hier mussten viele Menschen den neuen großen Parkplätzen weichen. Dadurch ist menschliches Leid entstanden, viele haben noch kein neues Dach über dem Kopf. Es ist wirklich sehr schwer, positive und negative Entwicklungen gegeneinander abzuwägen.

tagesschau.de: Ist die WM für Brasilien finanziell ein Erfolg?

Fischermann: Das sind Weltmeisterschaften nie. Es gab in den letzten Jahren weder Olympische Spiele noch Weltmeisterschaften, bei denen nachgewiesen werden konnte, dass sie dem Land finanziell was eingebracht haben. Es gibt kurzfristige Effekte für die Bauwirtschaft und die Tourismusindustrie, aber das verpufft sehr schnell.  Brasilien wird am Ende draufzahlen, aber das ist normal.

"Wenn die Brasilianer die Chance zum Klagen haben, nutzen sie diese"

tagesschau.de: Die brasilianische Elf ist auf desaströse Weise ausgeschieden. Schürt dies gesellschaftspolitische Unzufriedenheit oder bleibt es vor allem eine sportliche Niederlage?

Fischermann: Das Ausscheiden hat wichtige psychologische Effekte. Die Brasilianer können sich seltsamerweise über Niederlagen viel länger und ausgiebiger unterhalten als über Siege und Erfolge. Das gilt im Sport wie bei gesellschaftlichen und wirtschaftspolitischen Fragen. Es gibt kaum einen Brasilianer, der sich begeistert über die wirtschaftliche Entwicklung des Landes äußern würde. Man redet lieber über all das, was im Argen liegt. So ist es auch beim Fußball. Über die katastrophale Niederlage wird ausführlich debattiert. Der Stolz über schon Erreichtes hat in diesem Land immer eine wesentlich geringere Halbwertzeit als die Unzufriedenheit über das, was noch nicht umgesetzt wurde. Wenn die Brasilianer eine Chance zum Klagen sehen, dann nutzen sie diese auch.

"Die Opposition wird vom Ausscheiden der Seleção profitieren"

tagesschau.de: Bald gibt es Wahlen in Brasilien. Wird die WM den Wahlausgang beeinflussen, wie steht es um die Zukunft von Präsidentin Dilma Rousseff?

Fischermann: Nach dem Ausscheiden der Selecao ist die alte Unzufriedenheit über die vermeintliche Geldverschwendung rund um die WM und die sozialen Probleme des Landes wieder da. Und jetzt macht sich die Opposition diese Unzufriedenheit zu eigen. Die Chancen der Opposition haben sich durch die sportliche Niederlage sicherlich verbessert. Das Rennen um die politische Macht ist jetzt offen. Noch ist nicht absehbar, wer es gewinnen wird.

tagesschau.de: Wie sind die langfristigen Perspektiven für Brasilien?

Fischermann: Ich glaube sehr an dieses Land - aus verschiedenen Gründen: Die Wirtschaftsflaute ist eine vorübergehende Sache. Brasilien ist eine geopolitisch sehr wichtige Macht, die den Kontinent Südamerika dominiert. Das Land hat große Rohstoff-Vorkommen. Und, was das Wichtigste ist: Brasilien hat in den vergangenen Jahren viele Menschen aus der Armut in die Mittelschicht geholt. Darin stecken enorme Potenziale für das Land.

Das Interview führte Simone von Stosch, tagesschau.de