Vorratsdatenspeicherung Was das EuGH-Urteil bedeutet

Stand: 08.04.2014 13:20 Uhr

Der EuGH hat das EU-Gesetz zur Vorratsdatenspeicherung gekippt. Was bedeutet das konkret? Was wird aus den Strafzahlungen für Deutschland, das die Vorgaben nicht umgesetzt hatte? Könnte es eine neue EU-Richtlinie geben?

Von Frank Bräutigam, ARD-Rechtsredaktion

Von Frank Bräutigam, SWR, ARD-Rechtsexperte

Was bedeutet Vorratsdatenspeicherung?

Bei der Vorratsdatenspeicherung werden Verbindungsdaten (Verkehrsdaten) gespeichert, also zum Beispiel: Wer hat wann mit wem wie lange telefoniert, und von welchem Ort aus? Wer hat an wen eine E-Mail geschrieben? Mit welcher IP-Adresse war ich wie lange im Internet unterwegs? Das geschieht ohne bestimmten Anlass, also "auf Vorrat". Die Inhalte der Kommunikation werden nicht gespeichert.

Die Speicherungspflicht trifft die privaten Telekommunikationsunternehmen. Auf ihren Servern sollen die Daten verfügbar sein, für einen "zweiten Schritt": den Zugriff der staatlichen Behörden auf die Daten. Dieser ist nicht automatisch möglich, sondern nur unter bestimmten Voraussetzungen, zum Beispiel zum Zweck der Aufklärung von Straftaten.

Was ist der Unterschied zwischen der Vorratsdatenspeicherung und den Spähaktionen der NSA?

Ähnlichkeiten bestehen bei der Art der gespeicherten Daten, den sogenannten "Verkehrsdaten". Bei den Aktionen der US-Behörden geht es aber von vornherein um die Sammlung und den direkten Zugriff staatlicher Stellen auf die Daten. Bei der Vorratsdatenspeicherung findet der staatliche Zugriff erstmal "nur" unter bestimmten Voraussetzungen in einem "zweiten Schritt" statt. Die Daten werden von den Unternehmen gesammelt. Bei der EU-Vorratsdatenspeicherung geht es außerdem um die Daten im Inland, während bei der NSA Daten aus dem Ausland im Blickpunkt stehen.

Was war die europäische Rechtsgrundlage für die Vorratsdatenspeicherung?

Grundlage für die nationalen Gesetze zur Vorratsdatenspeicherung war eine EU-Richtlinie aus dem Jahr 2006 (Richtlinie 2006/24/EG). Anlass waren u.a. die Terroranschläge in Madrid 2004 und in London 2005, das Ziel war eine bessere Verbrechensbekämpfung. Allerdings war das Thema Vorratsdatenspeicherung im Spannungsfeld von Freiheit und Sicherheit von Anfang an in den Mitgliedsstaaten umstritten.

Die Richtlinie regelte eine Pflicht zur Speicherung der Verkehrsdaten von mindestens sechs Monaten und höchstens zwei Jahren sowie die Art von Daten, die die Unternehmen konkret speichern müssen. Die Mitgliedsstaaten sollten selbst sicherstellen, dass die Daten nur in bestimmten Fällen an die staatlichen Behörden weitergegeben werden. Eine EU-Richtlinie ist immer nur die Basis, auf der die einzelnen Staaten dann eigene Gesetze erlassen, also die Richtlinie "umsetzen". Dazu sind sie verpflichtet.

Wie hatte Deutschland ursprünglich die Richtlinie umgesetzt?

Ab Januar 2008 führte Deutschland die Vorratsdatenspeicherung ein. Man wählte die laut Richtlinie geringstmögliche Speicherdauer von sechs Monaten. Der Zugriff der Ermittlungsbehörden sollte unter anderem "zur Verfolgung von Straftaten", zur "Abwehr von erheblichen Gefahren für die öffentliche Sicherheit" oder zur Erfüllung der Aufgaben der Geheimdienste dienen. Die Behörden brauchten eine richterliche Genehmigung.

Von Anfang an war das Gesetz in Deutschland Gegenstand von Protesten und Demonstrationen. Mit Inkrafttreten des Gesetzes organisierte der "Arbeitskreis Vorratsdatenspeicherung" eine Verfassungsbeschwerde beim Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe, der sich über 30.000 Bürger anschlossen. Das Bundesverfassungsgericht war beim Datensammeln ohne konkreten Anlass stets ziemlich kritisch gewesen.

Was hat das Bundesverfassungsgericht 2010 abschließend entschieden?

Am 2. März 2010 gab es dann den Paukenschlag. Das Bundesverfassungsgericht erklärte das deutsche Gesetz für nichtig, weil es gegen Artikel 10 Grundgesetz (Fernmeldegeheimnis) verstoße. Alle bisher gesammelten Daten mussten gelöscht werden. Allerdings sagte das Gericht nicht, dass die Vorratsdatenspeicherung per se unmöglich sei. Ein deutsches Gesetz müsse nur weit mehr an Datensicherheit bieten und höhere Hürden für den staatlichen Zugriff auf die Daten aufstellen.

Die Daten dürften nur für "überragend wichtige Aufgaben des Rechtsgüterschutzes" abgerufen werden, zum Beispiel beim begründeten Verdacht einer schweren Straftat, etwa einer Anschlagsplanung oder Kinderpornografie. Bei der präventiven Arbeit der Polizei müsse eine konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit von Personen bestehen. Eine Verwendung der Daten durch die Geheimdienste sei deshalb in vielen Fällen ausgeschlossen, weil diese ja weit im Vorfeld von Straftaten tätig würden.

Gab es seitdem in Deutschland eine Vorratsdatenspeicherung?

Nein. Das Bundesverfassungsgericht hat mit seinem Urteil den Weg zu einer Neuregelung zwar nicht verbaut - sie wäre unter den strengen Voraussetzungen des Urteils möglich. Allerdings ist sie bislang am politischen Streit gescheitert. Die EU-Kommission hat Deutschland vor dem EuGH verklagt, weil es die entsprechende Richtlinie nicht umgesetzt hatte. Vertreter der Sicherheitsbehörden betonen immer wieder, wie wichtig die Vorratsdatenspeicherung zur Aufklärung von Straftaten gerade im Internet sei, etwa der Kinderpornografie. Sie verweisen auf eine "Schutzlücke", die sich ohne Vorratsdatenspeicherung auftue.

Wie ist die Lage in den anderen EU-Staaten?

Die anderen EU-Staaten haben die Mindestvorgaben der Richtlinie unterschiedlich umgesetzt, zum Beispiel bei den Speicherungsfristen. In zehn Staaten, darunter Frankreich und Spanien, werden die Daten ein Jahr lang gespeichert, in Polen sogar zwei Jahre. Auch die Hürden für den Zugriff sind unterschiedlich ausgestaltet. In einigen Staaten zweifeln aber auch die obersten Gerichte an der Rechtmäßigkeit der EU-Richtlinie. In Tschechien und Rumänien wurden die nationalen Gesetze - wie in Deutschland - für verfassungswidrig erklärt. Inzwischen haben aber auch diese Staaten neue Gesetze erlassen, so dass Deutschland als einziges Land die Richtlinie derzeit nicht umgesetzt hat.

Worum ging es bei den Klagen vor dem EuGH?

Vor dem EuGH ging es um die Wirksamkeit der EU-Richtlinie zur Vorratsdatenspeicherung, also um die "Basis" aller nationalen Gesetze. Die Verfassungsgerichte Österreichs und Irlands haben dem EuGH den Fall vorgelegt. Europäische Richtlinien müssen sich an den EU-Grundrechten messen lassen.

Verstößt die Richtlinie also gegen die Europäische Grundrechte-Charta? In Betracht kommt ein Verstoß gegen Artikel 7 (Achtung des Privatlebens) und Artikel 8 (Schutz personenbezogener Daten).

Was hat der EuGH nun entschieden?

Der EuGH hat die EU-Richtlinie zur Vorratsdatenspeicherung für ungültig erklärt, weil sie tatsächlich gegen die Grundrechte auf Achtung des Privatlebens und auf Schutz personenbezogener Daten verstößt. Das Gericht hält die Pflicht zur Datenspeicherung für einen "besonders schwerwiegenden Eingriff" in die besagten Grundrechte. Aus den Daten könnten sehr genaue Schlüsse auf die Gewohnheiten des täglichen Lebens der Bürger gezogen werden. Weil die Bürgerinnen und Bürger über die Speicherung und vor allem über die Nutzung der Daten nicht informiert werden, könne die Speicherung das Gefühl erzeugen, "dass ihr Privatleben Gegenstand einer ständigen Überwachung ist".

Allerdings: Das Gericht sagt auch, die Datenspeicherung sei grundsätzlich legitim, mit dem Ziel, schwere Kriminalität zu bekämpfen. Ebenso sei sie grundsätzlich geeignet, dieses Ziel zu erreichen. Doch dann kommt die wichtige Einschränkung: Die bisherige Richtlinie sei viel zu weit gefasst, überschreite die Grenzen der Verhältnismäßigkeit, denn:

- Die Richtlinie regele keine Pflicht, den Zugang zu den Daten (also den "zweiten Schritt") auf die Verfolgung schwerer Straftaten zu beschränken, außerdem gebe es keine Pflicht zur gerichtlichen Kontrolle des Zugriffs

- Die Dauer der Speicherung (zwischen sechs und 24 Monaten) sei viel zu undifferenziert geregelt

- Missbrauchsrisiken bei den speichernden Telefonunternehmen zum Thema Datensicherheit würden nicht wirksam bekämpft

- Die Richtlinie schreibe zudem nicht vor, dass die Daten im Gebiet der EU gespeichert werden müssen (was man durchaus als Reaktion auf den NSA-Skandal werten kann)

Was heißt das Urteil konkret für die EU-Richtlinie?

Der EuGH hat die Richtlinie für von Anfang an unwirksam erklärt. Sie existiert damit nicht mehr. Es besteht aktuell keine Pflicht der Mitgliedsstaaten, eine Vorratsdatenspeicherung einzuführen.

Was heißt das für die möglichen Strafzahlungen Deutschlands, weil die Richtlinie lange nicht umgesetzt wurde?

Die Grundlage für von der EU-Kommission verhängte Strafzahlungen Deutschlands ist durch das Urteil entfallen.

Könnte es eine überarbeitete, neue EU-Richtlinie zur Vorratsdatenspeicherung geben?

Ja, diese Möglichkeit besteht. Der EuGH hat nicht die Vorratsdatenspeicherung als solches für unzulässig erklärt, sondern die bestehende Regelung verworfen, weil sie ihm viel zu weit ging. Wenn der EU-Gesetzgeber aber die im Urteil vorhandenen Vorgaben für eine strengere Fassung umsetzt, könnte er eine neue Richtlinie auf den Weg bringen und beschließen. Ob das gewollt ist, ist nun eine politische Frage auf EU-Ebene. Die jetzige Situation auf EU-Ebene ähnelt derjenigen in Deutschland nach dem Urteil des BVerfG von 2010. Eine neue Regelung ist rechtlich möglich, hängt aber vom politischen Willen ab. Hier werden die Ansichten von Befürwortern und Gegnern auch auf europäischer Ebene weiter aufeinanderprallen.

Könnte Deutschland jetzt trotz des Urteils aus Luxemburg ein neues nationales Gesetz zur Vorratsdatenspeicherung einführen?

Ja, das ist rechtlich möglich. Durch das Urteil fällt allein die Pflicht weg, ein solches Gesetz zu schaffen. Trotzdem hat jeder Nationalstaat die rechtliche Möglichkeit, eine Regelung zur Vorratsdatenspeicherung einzuführen, solange diese nicht gegen die nationale Verfassung verstößt. Zentraler Punkt wäre daher, dass eine Neuregelung die Vorgaben des Karlsruher Urteils von 2010 zur Vorratsdatenspeicherung penibel umsetzt. Im Übrigen ist mein Eindruck, dass das Luxemburger Urteil jenem aus Karlsruhe inhaltlich sehr ähnlich ist, insofern würde man mit den Karlsruher Vorgaben im Wesentlichen wohl auch die Luxemburger Vorgaben umsetzen.

Was heißt das Urteil für die Gesetze anderer Staaten, die die Vorratsdatenspeicherung umgesetzt haben?

Diese Gesetze werden mit dem Urteil nicht automatisch unwirksam. Wenn bestimmte Staaten sie allerdings nur wegen der Vorgaben der EU-Richtlinie eingeführt haben sollten, hätten sie nun das Recht, die Gesetze auch wieder abzuschaffen. Außerdem könnten die Bürgerinnen und Bürger versuchen, vor den nationalen Verfassungsgerichten gegen die Gesetze zu klagen.