Hintergrund

Eskalation in der Ukraine Auch Nationalismus treibt den Protest

Stand: 23.01.2014 18:36 Uhr

Seit Wochen prägen immer stärker Bilder von vermummten Schlägern das Bild der Proteste in der Ukraine. Dahinter stehen teils rechtsnational orientierte Gruppen. Doch die Protestbewegung als extremistisch und gewalttätig abzustempeln, wäre weit verfehlt.

Von Von Silvia Stöber, tagesschau.de

Am vergangenen Sonntag sahen sie ihre Zeit gekommen: Während des Protestes auf dem Maidan in Kiew scherte eine Gruppe Gewaltbereiter aus der friedlichen Menge der Demonstranten aus und attackierte die Sicherheitskräfte. Seither prägen vermummte Männer mit Stöcken und Molotow-Cocktails das Bild der Proteste in Kiew, auch wenn sie nur einen Teil der Regierungskritiker ausmachen.

Ließen sich diese gewaltbereiten Demonstranten in den ersten Wochen des Protests noch zurückhalten, so kippte die Stimmung vergangenen Donnerstag.  Da wurde klar, dass die Staatsführung um Präsident Viktor Janukowitsch keinerlei Zugeständnisse an die Protestierenden machen würde.

Stattdessen ließ sie unter fragwürdigen Umständen ein Gesetzespaket durchs Parlament peitschen. Es erklärt nicht nur Aktionen der Protestbewegung für illegal. Es schränkt auch die Freiheit der Medien und der Nichtregierungsorganisationen ein. Die Oppositionspolitiker im Parlament müssen damit rechnen, jeden Moment ihre Immunität zu verlieren.

Rechtsextremer "Rechter Sektor"

Der gesetzeskonformen Protestmittel beraubt, blieben den auf friedlichen Protest ausgerichteten Oppositionspolitikern wie Vitali Klitschko keine Argumente mehr, um die gewaltbereiten Demonstranten von Attacken auf die Sicherheitskräfte abzuhalten. Mit den Ausschreitungen diskreditieren diese die Protestbewegung. Die ukrainische Führung und auch die russische Regierung sprechen von Extremisten, die die Stabilität des Landes gefährdeten.

Tatsächlich geht die Gewalt von Gruppierungen wie dem "Rechten Sektor" aus, einem informellen Zusammenschluss rechtsextrem Gesinnter. Sie fanden sich während der ersten Protesttage im November zusammen, koordinieren ihre Aktionen über das soziale Netzwerk VKontakte (eine Art russisches Facebook) und fordern dort auch zu Sachspenden auf, um sich für Auseinandersetzungen mit den Sicherheitskräften zu rüsten. Einen festen Treffpunkt auf dem Maidan, dem Protestplatz, haben sie nicht.

Zu ihnen sollen auch russischsprachige Fußballfans und Gewaltbereite aus verschiedenen Regionen der Ukraine zählen. Die Akteure dieser Gruppe eint eine feindliche Einstellung gegenüber Russland. An einem Dialog mit der Staatsmacht oder an Neuwahlen ist ihnen nicht gelegen. Sie wollen Präsident Janukowitsch aus dem Amt jagen und einen neuen Nationalstaat errichten. Anders als den meisten Teilnehmern der Protestbewegung ist ihnen nicht an einem Beitritt der Ukraine zur EU gelegen. Auf Kritik von Klitschko und anderen Oppositionellen gehen sie nicht ein.

Swoboda gibt sich gemäßigt

Der "Rechte Sektor" vertritt radikalere Ansichten als die Partei Swoboda des Oppositionspolitikers Oleh Tjahnibok. Dieser tritt meist zusammen mit Udar-Chef Vitali Klitschko und Arseni Jazenjuk von der Vaterlandspartei auf - sei es auf der Tribüne des Maidan-Platzes oder Ende November in der litauischen Hauptstadt Vilnius. Dort traf Tjahnibok am Rande des EU-Nachbarschaftsgipfels auch mit EU-Erweiterungskommissar Stefan Fule zusammen.

In Vilnius gab sich Tjahnibok Europa-freundlich. Er ist rhetorisch begabter als Klitschko und kann die Massen mitreißen. Doch auch wenn er sich gemäßigt gibt, so stand seine Partei in den vergangenen Jahren für "rassistische, antisemitische und ausländerfeindliche Auffassungen", wie zum Beispiel das Europaparlament in einer Resolution am 13. Dezember 2012 feststellte.

Ende Mai vergangenen Jahres traf der Swoboda-Abgeordnete des ukrainischen Parlaments, Mychajlo Holowko, in Dresden mit der NPD-Fraktion im sächsischen Landtag zusammen. Über die "Europäische Allianz der nationalen Bewegungen" hat Swoboda Kontakt zu weiteren rechtsextremen und nationalistischen Parteien in Europa.

Nationalismus weit verbreitet

In der Ukraine ist Swoboda populär: Bei der Parlamentswahl 2012 gewann Tjahniboks Partei 10,4 Prozent der Stimmen. Um die Opposition gegen Präsident Janukowitsch zu einen, verbündeten sich Klitschkos Partei Udar und die Vaterlandspartei mit Swoboda.

Auch andere Politiker wie die inhaftierte Ex-Ministerpräsidentin Julia Timoschenko sind Sprüchen wie "Ukraine über alles" nicht abhold. Ohnehin wird Nationalismus in der Ukraine stark als Stolz auf den Selbstbehauptungswillen der eigenen Nation und Bewahrung der eigenen Identität vor allem gegenüber Russland ausgelegt. Für Fremdenfeindlichkeit und Antisemitismus gibt es hingegen wie in vielen post-sowjetischen Staaten wenig Sensibilität.

In der Ukraine kann man das zum Beispiel am Umgang mit dem umstrittenen Politiker Stepan Bandera sehen. Vor allem in der Westukraine wird er als Nationalheld und Freiheitskämpfer verehrt. Souvenirshops in Lemberg verkaufen Andenken und T-Shirts von ihm. Jedoch soll er für ein Massaker an Tausenden Juden und Kommunisten am 30. Juni 1941 in Lwiw (Lemberg) verantwortlich sein. Während des Zweiten Krieges kämpfte er mit dem Ziel eines unabhängigen ukrainischen Staates mal mit Unterstützung der Deutschen, mal auf Seiten der Sowjet-Armee.

Der einstige ukrainische Präsident Viktor Juschtschenko verlieh Bandera 2010 den Titel "Held der Ukraine". Der derzeitige Präsident Janukowitsch erkannte Bandera diese Ehre wieder ab. Janukowitsch stammt aus dem überwiegend russischsprachigen Osten der Ukraine.

Bezahlte Schlägertrupps der Regierung?

Je größer die Unzufriedenheit über Janukowitschs Regierungsführung ist und je abhängiger er sich von Russland macht, desto stärker reagieren die Menschen vor allem in der Westukraine mit nationalistisch geprägtem Trotz. Der gesamten Protestbewegung jedoch extremistische und gewalttätige Tendenzen zu unterstellen, wäre weit verfehlt.

Wenn die Regierung um Janukowitsch und Russland der Protestbewegung eine Eskalation der angespannten Lage vorwerfen, so müssen sie sich auch den Vorwürfen stellen, dass bezahlte Schlägertrupps für Unruhe in Kiew sorgen.

So berichtete der Ukraine-Experte Wilfried Jilge im Deutschlandfunk, seit längerem seien solche Trupps unterwegs, um Oppositionelle und Journalisten einzuschüchtern - mit Billigung der Sicherheitskräfte. Mehrere Journalisten berichteten von gezielten Angriffen auf sie. Vor kurzem wurde ein bekannter Aktivist in einem Wald tot aufgefunden. Nach Angaben aus Oppositionskreisen wies die Leiche Folterspuren auf.

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete die tagesschau am 23. Januar 2014 um 20:00 Uhr.