Europäisches Parlament kritisiert Reformtempo Skepsis gegen EU-Beitritt der Türkei wächst

Stand: 21.05.2008 17:39 Uhr

Regelmäßig informiert der Fortschrittsbericht des EU-Parlaments über die Reformen in der Türkei. Im neuesten Bericht werden viele Kritikpunkte deutlich, auch das Tempo der Reformen wird bemängelt.

Von Wolfgang Otto, ARD-Hörfunkstudio Brüssel

Der jüngste EU-Fortschrittsbericht zur Türkei ist in der vorsichtigen Sprache der Diplomatie gehalten. Und doch lässt er an Deutlichkeit kaum zu wünschen übrig. Bei den politischen Reformen seien kaum Fortschritte erzielt worden. Es hapere beim Recht auf freie Meinungsäußerung und bei der Religionsfreiheit, heißt es dort. Zusätzliche Anstrengungen bedürfe es bei der Korruptionsbekämpfung und im Justizsystem sowie bei den Rechten für Gewerkschaften, Kinder und Frauen.

Die kritischen Anmerkungen treffen ziemlich genau die Stimmungslage der Mehrheit der Europa-Abgeordneten, sagt Klaus Hänsch, SPD-Parlamentarier in Straßburg: "Der Bericht ist die freundlichste Äußerung, die man im Europäischen Parlament im Augenblick über die Beitrittsverhandlungen zwischen der Europäischen Union und der Türkei finden kann", sagt er.

"Wir dürfen diesen Fehler nicht wiederholen"

Mehr und mehr Europa-Politiker sehen den Beitrittsprozess der Türkei mit großer Skepsis. Selbst diejenigen, die eine EU-Mitgliedschaft im Prinzip befürworten, bestehen auf der unbedingten Erfüllung der Beitrittsbedingungen. "Wir dürfen die Situation, dass wir Beitritte mit Rabatt verteilen, wie wir das bei Bulgarien und Rumänien gemacht haben, oder wie sich das jetzt auch bei anderen möglichen Beitritten etwa Kroatien abzeichnet - wir dürfen diesen Fehler nicht wiederholen", betont er.

Seit der Ost-Erweiterung habe die EU zu oft Abstriche bei ihren Beitrittsvorgaben gemacht und Kandidaten aufgenommen, die eigentlich noch nicht reif dafür waren. Zu früh seien konkrete Daten für einen Beitritt genannt worden, wodurch sich die EU unter Zugzwang gesetzt habe. Deshalb ist es für den SPD-Europaparlamentarier Klaus Hänsch diesmal besonders wichtig, dass die Beitrittsverhandlungen ein Prozess mit offenem Ausgang bleiben. "Das Ergebnis dieser Verhandlungen ist nicht festgeschrieben", sagt er. Einen Automatismus gebe es nicht.

"Vollmitgliedschaft zum jetzigen Zeitpunkt unmöglich"

Einen kleinen, aber entscheidenden Schritt weiter gehen konservative Abgeordnete im Europaparlament, so wie Markus Färber (CDU). Er hält es für aussichtslos, auf zügige Reformschritte zu setzen. Einen demokratischen Rechtsstaat nach westeuropäischem Muster werde es in der Türkei auf absehbare Zeit nicht geben, sagt er: "Man muss der Türkei klar und deutlich sagen, dass zum jetzigen Zeitpunkt eine Vollmitgliedschaft unmöglich ist. Wir dürfen hier keine falschen Hoffnungen in Ankara wecken, weder bei den politisch Verantwortlichen noch bei den Menschen", sagt er. Vielmehr müsse man dort zusammenarbeiten, wo es möglich sei. "Und wenn sich dann in 20,30 oder in 50 Jahren eine andere Konstellation ergibt, haben wir damit die Tür nicht zugemacht."

"Erweiterungsmüdigkeit" in Europa

Befürworter des EU-Beitritts der Türkei, wie zum Beispiel der deutsche SPD-Abgeordnete Vural Öger, beobachten die aktuell Diskussion mit einigem Befremden. "Man verhandelt mit der Türkei nicht so wie man mit anderen Kandidaten verhandelt hat. Ich kenne keinen Fall, bei dem einige der EU-Staaten so geteilt sind und dass ein Teil dafür ist und ein Teil dagegen", sagt er. "Selbst im Fall Bulgarien und Rumänien herrschte Einstimmigkeit."

In Europa herrsche derzeit Erweiterungsmüdigkeit. Das sei zwar angesichts der Probleme, die die Globalisierung mit sich bringe, verständlich. Aber die distanzierte Haltung der EU bereite auch der türkischen Regierung Schwierigkeiten, den Reformprozess im Lande voranzutreiben.

Zum Beitritt keine Alternative

Allerdings: Beitrittsbefürworter halten die derzeit um sich greifende Abwehrhaltung für übertrieben - und für nicht ganz ehrlich. Denn eigentlich sei auch den Kritikern klar, dass es zu einem EU-Beitritt der Türkei keine Alternative gebe. Dazu sei die Türkei strategisch und als Bindeglied zur islamischen Welt viel zu wichtig. Öger geht daher davon aus, dass die Regierungen dies berücksichtigen. "Deswegen werden sie den Prozess weiter fortsetzen, aber nicht mit großem Elan", sagt er. "Es wird ein langer Prozess werden. Aber niemals wird eine Entscheidung fallen, dass man sagt: Wir brechen mit den Verhandlungen ab." Der SPD-Parlamentarier Öger rät deshalb zu mehr Nüchternheit: In 10, 15 Jahren, meint er, könne sich die allgemeine Stimmungslage in Bezug auf den Türkeibeitritt völlig gewandelt haben.