Interview

Interview mit ARD-Korrespondent Pick "Anti-Amerikanismus in der Türkei stärker als im Iran"

Stand: 06.04.2009 14:50 Uhr

Jubelnde Menschenmengen - dieses Bild sah man bislang bei Reisen des neuen US-Präsidenten. In der Türkei gibt es zum Besuch von Obama hingegen Protestkundgebungen. Wie kommt das? tagesschau.de hat darüber mit dem Istanbuler ARD-Korrespondenten Ulrich Pick gesprochen.

Jubelnde Menschenmengen - dieses Bild sah man bislang bei Reisen des neuen US-Präsidenten. In der Türkei gibt es zum Besuch von Obama hingegen Protestkundgebungen. Wie kommt das? tagesschau.de hat darüber mit dem Istanbuler ARD-Korrespondenten Ulrich Pick gesprochen.

tagesschau.de: In den meisten Ländern wird der neue US-Präsident von den Menschen mit Jubel empfangen, in der Türkei gibt es Proteste gegen ihn? Wie kommt das?

Ulrich Pick: Das Verhältnis der Türkei zu den USA ist sehr ambivalent: Einerseits übernimmt man viele Trends aus den USA viel schneller und stärker als etwa in Deutschland. Andererseits tritt man den Amerikanern sehr skeptisch gegenüber. Viele Türken haben noch größere anti-amerikanische Ressentiments als etwa Iraner. Das verwundert vielleicht in Deutschland. Genährt ist das sicher von der Bush-Administration. Der Ex-Präsident hatte ähnlich hohe Sympathiewerte wie etwa Osama bin Laden. Vor diesem Hintergrund muss man die anti-amerikanischen Demonstrationen sehen. Gleichwohl: Alle Zeitungen bejubeln jetzt den Besuch von Obama. Es scheint sich hier also etwas zu ändern.

tagesschau.de: Welche Gründe spielen eine Rolle für Anti-Amerikanismus in der Türkei?

Pick: Es ist ein ganzes Paket von Gründen. Zum einen möchte man als Regionalmacht anerkannt werden. Die Türkei ist mit 73 Millionen Einwohnern zusammen mit Ägypten das bevölkerungsreichste Land des Nahen Ostens. Man will vom Westen als eines der "großen" Länder der Welt wahrgenommen werden. Das zweite ist, dass man lange Zeit vom Westen - und hier werden die EU und die USA oft vermengt - vertröstet wurde, was etwa Verhandlungen um eine EU-Mitgliedschaft betrifft. Da werden Ressentiments gegenüber Brüssel mit denen gegenüber Washington vermischt. Als Drittes kommt das Thema Armenien hinzu: Man hat Angst, dass Obama die Massenmorde an Armeniern zu Osmanischer Zeit einen "Genozid" nennt - was man in der Türkei überhaupt nicht hören möchte.

tagesschau.de: Am Wochenende hatte sich Obama für eine Vollmitgliedschaft der Türkei in der EU ausgesprochen. Bringt ihm das Sympathiepunkte?

Pick: In den Zeitungen ist das auf jeden Fall so: Ein großes Massenblatt titelt heute zum Beispiel mit der Schlagzeile "Bravo Obama!". In der Türkei wird das endlich mal wieder als positives Signal beim Thema EU-Beitritt gesehen. Positiv bewertet wird zudem Obamas Initiative, die Hand auszustrecken. Und man sieht in Obama die personifizierte Garantie für das, was die Türkei bei den Gipfeltreffen am Wochenende an Zusagen bekommen hat.

tagesschau.de: Sie haben vorhin gesagt, die EU und die USA werden in der Türkei gerne mal - salopp gesagt - in einen Topf geworfen. Wie kommt das?

Pick: Die Türkei hat ein großes Problem: Sie weiß nicht, ob sie zum Osten oder zum Westen gehört. Sie sieht sich als muslimisch und möchte dennoch die westlichen Werte haben, weshalb sie seit Jahrzehnten an die Tür der EU klopft. In der Türkei hat man den Eindruck, dass man vom Westen wie ein Hund immer ein Stöckchen hingehalten und gesagt bekommt "spring, spring". Ich habe umgekehrt aber auch den Eindruck, dass der Westen der Türkei manche schrägen Töne länger vorhält, als er dies bei anderen Ländern tun würde.

tagesschau.de: Auch für heute Abend sind erneut Kundgebungen gegen den Obama-Besuch angekündigt. Geben solche Proteste die Meinung der Mehrheit wieder oder ist das eher eine kleine, lautstarke Minderheit?

Pick: In dem Fall ist es eher eine Minderheit. Es gibt in der Türkei Gruppierungen unterschiedlichster Art, die dem Westen kritisch gegenüberstehen: EU-Gegner, Nationalisten und Faschisten, die gegen alles sind, was die Türkei in ihrer angeblichen Hoheit stören könnte. Es sind auch Oppositionelle, die der Erdogan-Regierung den Triumph nicht gönnen. Das ist eine große Melange. Die Mehrheit der Türken stützt aber sicherlich den Kurs in Richtung EU und Westen.

Die Fragen stellte Holger Schwesinger, tagesschau.de