
Pressefreiheit in der Türkei "Der Rechtsstaat existiert nicht mehr"
Stand: 25.03.2018 09:46 Uhr
Die Menschenrechtslage wirft einen langen Schatten auf den EU-Türkei-Gipfel. Türkischer, regierungskritischer Journalismus ist schwer unter Druck. Die traditionsreiche "Cumhuriyet" kämpft ums Überleben.
Von Oliver Mayer-Rüth, ARD-Studio Istanbul
Aydin Engin ist 77 Jahre alt. Sein Gang ist leicht gebückt - vielleicht auch, weil Tonnen von Verantwortung und Sorgen auf seinen Schultern lasten. Wieder einmal muss der "Cumhuriyet"-Journalist vor Gericht erscheinen. Diesmal sei es noch schwerer, "Sehr, sehr schwer", sagt er auf Deutsch, denn "der Rechtsstaat existiert in der Türkei nicht mehr".
Seit 16 Monaten ist Engin kommissarischer Chefredakteur und Geschäftsführer der Tageszeitung "Cumhuriyet". Aus der Not heraus. Der eigentliche Chefredakteur und der eigentliche Geschäftsführer sitzen hinter Gittern. "Cumhuriyet" sei wie ein schmerzhafter Dorn für die regierende AKP und Präsident Recep Tayyip Erdogan, so Engin. Insbesondere Erdogan wolle die Zeitung mundtot machen. "Doch bis heute hat er es nicht geschafft."
Der Rechtsstaat zerfällt - Istanbul
Weltspiegel, 23.03.2018, Mayer Rüth, ARD Istanbul
Ankunft am Gericht in Silivri: Die Staatsanwaltschaft wirft Engin und weiteren "Cumhuriyet"-Journalisten die Unterstützung von als Terrororganisationen eingestuften Gruppierungen vor. Darunter die Gülen-Bewegung oder die verbotene kurdische Arbeiterpartei PKK.
Es ist ein weiterer Verhandlungstag für Engin und 17 seiner Kollegen. Acht von ihnen saßen bereits mehrere Monate im Gefängnis und wurden schließlich freigelassen. An diesem Verhandlungstag sitzen noch drei im Hochsicherheitsgefängnis direkt neben dem Gericht in Haft. Im Oktober 2016 kam auch Engin in Polizeigewahrsam. Nach fünf Tagen ließ ihn der Haftrichter aufgrund seines hohen Alters jedoch wieder frei.
Freudentränen und Erleichterung
Diesmal zieht sich die Verhandlung bis tief in die Nacht. Dann die Überraschung: Der Richter entlässt den eigentlichen Chefredakteur Murat Sabuncu und den Investigativjournalisten Ahmet Sik aus der Untersuchungshaft. "Eines Tages werden wir wieder glücklich sein. Ich versichere Euch, dieses Mafia-Sultanat wird untergehen!", ruft Sik. Freudentränen, erleichterte Familienangehörige. Es ist ein guter Tag in der Geschichte des fast 100 Jahre alten Traditionsblattes "Cumhuriyet".
Erstmals war die Zeitung im Jahr 1924 erschienen. Heute hat sie eine Auflage von 40.000. Seit etwa einem Jahr stehen gepanzerte Polizeiautos vor der Tür - ob zum Schutz oder zur Abschreckung der Journalisten, sei unklar, heißt es in der Redaktion.
Am Tag nach der Freilassung wird gefeiert. Doch der Prozess ist für die Zeitungsmacher noch nicht zu Ende. Akin Atalay, der Geschäftsführer sitzt weiterhin im Gefängnis. Deswegen prangt sein Foto mahnend auf der Titelseite des Blattes.
Engin hat seine eigene Theorie, warum seine Kollegen ausgerechnet jetzt entlassen wurden. Kurz vor dem EU-Türkei-Gipfel wolle man die Europäer versöhnlich stimmen: "Mehr als 150 Journalisten sind immer noch in Haft. Kurdische Medien existieren nicht mehr." Zudem sei die Türkei zurzeit im Krieg in Syrien. Der Freispruch sei zwar ein Teil von Demokratie und Freiheit, "aber nur ein sehr, sehr kleiner Teil".
"Ich habe immer einen Koffer bereit"
Ein paar Tage später treffen wir Engin zuhause. Im Jahr 1980 ging er nach einem Militärputsch für zwölf Jahre ins Exil nach Deutschland. Schon damals wollten ihn Staatsanwälte für seine kritischen Berichte einsperren. Das droht auch heute wieder - jeden Tag.
"Es wäre eine Lüge zu behaupten, ich hätte keine Angst. Wir haben Angst", sagt Engin. "Aber mit der Angst kann man leben und auch weiter oppositionell arbeiten". Dennoch, er wolle es nochmal explizit betonen: "In der Türkei ist die Demokratie wirklich in Gefahr."
Engins Frau Oya Baydar schreibt Bücher. Sie kritisiert die Politik von Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan noch schärfer als ihr Mann: "Sorgen haben wir natürlich immer, ich habe immer einen kleinen Koffer bereit, den ich ab und zu umpacke. Wenn sie kommen sollten, um mich festzunehmen, wäre dort alles drin." Angst habe sie jedoch nicht. "Was soll's, dann gehen wir halt ins Gefängnis." Erdogan habe in jedem Fall Angst, so Engin: "Wenn er seine Macht verliert, muss er vor dem Kadi stehen, dass ist Erdogans Angst." Aber Erdogans Macht scheint derzeit ungebrochen.
Ein Straßburger Urteil hebt die Stimmung
Am nächsten Morgen beeilt sich Engin, in die Redaktion zu kommen. Es steht eine wichtige Entscheidung an. Der europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg urteilt, dass die Inhaftierung der türkischen Journalisten Sahin Alpay und Mehmet Altan Unrecht sei. In Engins Büro steigt die Stimmung.
Man habe das Urteil so erwartet, sagt Chefredakteur Sabuncu. "Ein Verstoß gegen das Recht auf Freiheit. Das ist ein wichtiger Tag für die Türkei und für die Journalisten. Für alle ist das sehr wichtig." In einem Rechtsstaat müssten die beiden Journalisten sofort freikommen, fügt Engin hinzu. Man müsse nun abwarten, war passiere.
Inzwischen ist das Urteil aus Straßburg fast eine Woche alt und die Journalisten wurden immer noch nicht aus der Haft entlassen. Die Lage der Menschenrechte in der Türkei wirft einen langen dunklen Schatten auf den EU-Türkei-Gipfel am Montag.
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