Interview

Interview 25 Jahre nach der Reaktorkatastrophe "Tschernobyl wütet in den Genen"

Stand: 26.04.2011 03:27 Uhr

Ein Vierteljahrhundert ist die Katastrophe von Tschernobyl bereits her. Doch die Folgen der radioaktiven Strahlung nehmen zu, sagt die Ärztin Dörte Siedentopf im Interview mit tagesschau.de. Sie leistet seit 20 Jahren in Weißrussland Hilfe und engagiert sich gegen Atomkraft.

tagesschau.de: Frau Siedentopf, Sie fahren seit 1990 regelmäßig in weißrussische Orte, um dort Opfern der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl zu helfen. Welche Auswirkungen gibt es dort?

Dörte Siedentopf: Über Weißrussland ist durch den Wind die größte Menge Radioaktivität niedergegangen. Unsere Partnerstadt Kostjukowitischi liegt etwa 180 Kilometer Luftlinie von Tschernobyl entfernt im Osten Weißrusslands. Der Kreis wurde zu einem Drittel verstrahlt. Von den damals 35.000 dort lebenden Menschen mussten 8000 umgesiedelt werden. Mehr als 30 Dörfer wurden abgetragen oder vergraben.

tagesschau.de: Welche Folgen sind heute noch zu spüren?

Siedentopf: Anders als bei jeder anderen Katastrophe nehmen die Folgen der radioaktiven Verstrahlung mit dem Abstand vom Ereignis zu. Das ist wie eine auf dem Kopf stehende Pyramide. In Fukushima sind wir noch unten in der Spitze. Tschernobyl ist da schon ein Stück weiter. Tschernobyl wütet in den Genen, aber auch in jeder anderen Zelle, die von Genen gesteuert wird. 25 Jahre danach ist das Problem vor allem die Niedrigstrahlung.

Zur Person

Dörte Siedentopf ist Allgemeinärztin und Psychotherapeutin im Ruhestand. Seit 1990 fährt sie regelmäßig in weißrussische Dörfer, die durch die Reaktorkatastrophe im ukrainischen Tschernobyl vor 25 Jahren verstrahlt wurden. Unter anderem half sie mit ihrem Verein, die medizinische Versorgung der Opfer zu verbessern. Mehr als 800 Kinder und deren Betreuer kamen seit 1991 mit Unterstützung ihres Vereins zur Erholung nach Deutschland. Inzwischen gibt es eine Städtepartnerschaft zwischen ihrem Ort Dietzenbach und dem weißrussischen Ort Kostjukowitschi. Die 69-Jährige ist Mitglied der internationalen Vereinigung "Ärzte gegen den Atomkrieg" (IPPNW).

300 Jahre mit strahlenbedingten Krankheiten zu rechnen

tagesschau.de: Wie kommt es zur Niedrigstrahlung?

Siedentopf: Zum Beispiel durch Strontium und Cäsium, die eine Halbwertszeit von 30 Jahren haben. Man muss diese Zahl immer mit zehn multiplizieren. Solange dauert es, bis keines dieser radioaktiven Isotope mehr im biologischen Kreislauf ist. Während dieser 300 Jahre, also acht bis zehn Menschengenerationen, ist immer wieder mit der Zunahme strahlenbedingter Krankheiten zu rechnen.

tagesschau.de: Wo befinden sich die radioaktiven Substanzen?

Siedentopf: Die Radioaktivität ist in Weißrussland sicherlich längst ins Grundwasser gelangt. Es gibt dort Sumpfgebiete und sandigen Boden. Das Grundwasser steht nicht tief. Man geht davon aus, dass die Radioaktivität pro Jahr zwei Zentimeter in den Boden wandert. Dann sind wir jetzt bei 50 Zentimetern. Die Radioaktivität gelangt über das Wasser in die Pflanzen und Tiere. Auf einem sandigen Acker kann man mit einem Geigerzähler nichts mehr messen. Im Wald dagegen dringt die Radioaktivität durch das Laub und das Moos nicht hindurch. Sie bleibt an der Oberfläche. In einem Laubgebiet oder am Rande eines Waldes tickt der Geigerzähler noch, oder auch in Vertiefungen, wo sich Regenwasser sammelt.

Bestechungsgeld für die Zulassung von Medikamenten in Weißrussland

tagesschau.de: Welche Hilfe haben Sie geleistet?

Siedentopf: In den ersten zehn Jahren haben wir zum Beispiel Grundsubstanzen mitgebracht, aus denen in der Apotheke Augen- und Ohrentropfen oder auch Zäpfchen hergestellt wurden. Seit zehn Jahren ist dies nicht mehr erlaubt. Seitdem müssen die Apotheken herausgeben, was zentral eingekauft und zugeteilt wird.

tagesschau.de: Funktioniert diese zentral gesteuerte Zuteilung von Medikamenten?

Siedentopf: Die funktioniert im Großen und Ganzen. Es gibt aber Engpässe bei speziellen Dingen. Welche Mittel zugelassen werden, hängt oft vom Bestechungsgeld ab, das die Firma zahlt, die das Medikament registrieren lassen will. Ein Problem ist zum Beispiel, dass es nur zwei vom Staat zugelassene Sorten Insulin gibt. Kinder brauchen aber oft eine andere Form Insulin. Diabetes ist eine Krankheit, die nach Tschernobyl bei Kindern deutlich zugenommen hat. Schon Neugeborene haben manchmal Diabetes. Da leisten wir im Einzelfall Hilfe.

Diabetes, Gehirnerkrankungen, Herzinfarkte

tagesschau.de: Wie kommt es, dass Diabetes bei Kindern häufiger auftritt?

Siedentopf: Das ist vor allem mit dem Cäsium und der damit verbundenen Niedrigstrahlung zu erklären. Es befindet sich in der Nahrungskette und gelangt so in den Darm von Schwangeren. Die Bauchspeicheldrüse der Kinder in der Gebärmutter wird so in der Entwicklung gestört. Die aber produziert das Insulin und gehört zu den sensibelsten Organen des Menschen.

Kinder haben bis zum dritten Lebensjahr kein Immunsystem, das Schäden repariert, und sie haben anders als Erwachsene eine hohe Zellteilungsrate. Die Zellteilung ist immer der kritische Moment, in dem die Strahlung störend wirkt. Deshalb werden Kinder schon durch minimale Dosen in ihrer Entwicklung gestört.

tagesschau.de: Welche Auswirkungen erleben Sie noch durch die verbliebene Strahlung?

Siedentopf: Man sagt zum Beispiel oft, die Menschen in der Gegend um Tschernobyl seien nervös und hätten die berühmte Tschernobyl-Phobie. Deswegen könnten sie sich nicht konzentrieren. Dies geht aber auf ganz diffuse Störungen im Gehirn zurück. Das Gehirn gehört nach der Geburt zu den Organen, dessen Zellen sich am häufigsten teilen.

In der ersten Generation nach Tschernobyl sind Ehepaare zu 30 Prozent ungewollt kinderlos. In Deutschland sind es zehn Prozent. Durch die Schädigung des Erbguts kommt es zu einer Zunahme an Frühaborten und Frühgeburten, die zum Tode führen, weil die Kinder nicht lebensfähig sind. Was die Kinder überleben, wenn sie nicht schon im Embryonalstadium sterben, vererben sie weiter.

"Die Atomlobby und ein Diktator passen gut zusammen"

tagesschau.de: Es gibt verschiedene Angaben über die Zahlen der Opfer, wie erklären Sie sich das?

Siedentopf: Eine für die Statistik verantwortliche Frau erzählte mir, sie bekomme Vorgaben aus der Bezirksstadt. Es werde geschrieben, was die Vorgesetzten hören wollten, denn niemand wolle seine Prämie verlieren. Im Jahr 2010 gab es in der Statistik fast keine Krebstoten mehr. Alle nicht mehr jungen Menschen sterben offiziell an Altersschwäche. Auch ein an Krebs erkrankter Mensch kann an etwas anderem sterben. Deswegen ist der Statistik in autoritären Ländern wie Weißrussland, aber auch in der Ukraine nicht zu trauen. Je häufiger die Krankheiten auf andere Ursachen zurückgeführt werden, umso billiger ist es für das Gesundheitssystem. Die Atomlobby und ein Diktator passen gut zusammen. Beiden ist es nur recht, dass Tschernobyl historisiert wird. Die Menschen dort aber sagen, Tschernobyl ist unser Leben.

tagesschau.de: Welche Rolle spielen Weltgesundheitsorganisation WHO und die Internationale Atomenergiebehörde IAEA?

Siedentopf: Dass wir nicht aufgeklärt werden über viele Dinge, liegt an einem unsäglichen Vertrag zwischen der WHO und der IAEA von 1959. Die IAEA bestimmt, was die WHO zum Thema gesundheitliche Folgen radioaktiver Strahlung untersuchen und veröffentlichen darf. Viele Konferenzen haben nicht stattgefunden und Studien russischer, weißrussischer und ukrainischer Wissenschaftler zur Frage der Niedrigstrahlung sind nicht publiziert worden. Diese hat dankenswerter Weise 2009 die "New York Academy of Science" veröffentlicht.

"Fukushima ist viel schlimmer"

tagesschau.de: Wie schätzen Sie die Lage in Fukushima ein?

Siedentopf: Ich denke, die Lage dort ist viel schlimmer, weil kein Ende abzusehen ist und es auch um das hochgiftige Plutonium geht. Wir haben überhaupt keine Vorstellung, wie viel Radioaktivität ins Meer gelangt ist und wo sie hinströmt. Auch ist die Bevölkerungsdichte nicht mit dem ländlichen Weißrussland zu vergleichen. Hinzu kommt, dass das Trinkwasser in den Bergen gewonnen wird. Die Berge verhindern, dass sich die Wolken verteilen. Die Radioaktivität bleibt praktisch dort an diesem schmalen Küstenstreifen. Die Pläne, dass die Schäden in neun Monaten beseitigt sein sollen, sind völlig absurd. Das sind reine Worthülsen.

Das Interview führte Silvia Stöber, tagesschau.de