
Corona-Politik Was ist in Tschechien schiefgelaufen?
Stand: 15.10.2020 04:15 Uhr
Tschechien wurde für seine frühen Maßnahmen gegen das Coronavirus erst belächelt, dann bewundert. Inzwischen sind die Infektionszahlen dramatisch hoch. Was ist über den Sommer geschehen?
Von Peter Lange, ARD-Studio Prag
Wenn tschechische Historiker dereinst die Geschichte dieses Pandemie-Jahres 2020 schreiben, dann werden sie auf zwei denkwürdige Ereignisse stoßen. Am 25. Mai eröffnete das Nationalmuseum eine Ausstellung selbstgeschneiderter Schutzmasken, die es nach einem Aufruf erhalten hatte. Die Zeit der Schutzmasken war, wie es schien, vorbei; die wurden nicht mehr gebraucht, die konnten weg.
Etwa fünf Wochen später, am 30. Juni, trafen sich auf der Karlsbrücke etwa 1200 Leute und feierten an einer riesigen, spontan errichteten Tafel das Ende der dunklen Corona-Zeit. Am Tag darauf fielen nämlich die letzten Restriktionen: die Maskenpflicht in Geschäften und Restaurants.
Tschechiens Umgang mit der Pandemie teilt sich in drei Phasen: die erste endete mit dem 25. Mai. Die zweite begann mit dem 20. Juli. Seit dem 1. September ist das Land in der dritten Phase - aber dazu später.
Zunächst Rückhalt für Einschränkungen
Auf den Beginn der Corona-Pandemie hat die tschechische Regierung geradezu lehrbuchhaft reagiert - frühzeitig, konsequent und mit Unterstützung der Bevölkerung. Zehn Tage nach der ersten registrierten Infektion wurde der Freizeitsektor weitgehend geschlossen. Am Tag 12 wurde der Notstand verhängt. Nach 16 Tagen wurde das ganze Land unter Quarantäne gestellt, mit geschlossenen Grenzen für die Bürger, wofür die Regierung viel Kritik erntete.
In Deutschland wurden die vermeintlich ängstlichen Tschechen am Anfang noch belächelt. Eine Woche später war der große Nachbar am gleichen Punkt angelangt. Fortan orientierte man sich in Deutschland lieber an "Nachbarn" wie Italien, Spanien oder Schweden als am eigentlichen Nachbarn, um sich selbst zu vergewissern, wie gut und wieviel besser das Land durch die Corona-Pandemie kommt. Das - nebenbei bemerkt - hat sich geändert, seit es in Tschechien schlechter läuft als beim Nachbarn.
Bis Mitte Mai gab es in Tschechien 350 Todesfälle im Zusammenhang mit Covid-19. Da hatte Schweden bei annähernd gleicher Bevölkerungszahl 3500 Corona-Opfer zu beklagen.
Aufatmen im Sommer
Es kam der Sommer. Die täglichen Ansteckungszahlen sanken auf durchschnittlich 100. Das normale Leben kehrte zurück in Kneipen und Biergärten, für den Seelenhaushalt der Tschechen extrem wichtig, weil sich das soziale Leben eben dort abspielt, und nicht in den vergleichsweise kleinen Privatwohnungen.
Besucher aus Deutschland waren regelrecht irritiert, wenn sie mitbekamen, dass Covid-19 im Alltag in Prag offenbar so gar keine Rolle mehr spielte. In den Prager Clubs wurde gefeiert wie früher, ohne lästige Abstands- und Hygieneregeln. Die Tschechen konnten auch in die Ferien fahren, besonders nach Kroatien an die geliebte Adria. Manche brachten von dort als Mitbringsel das Coronavirus mit, wie sich später herausgestellte.
Die sorglose Zeit endet
Nach ein paar sorglosen Wochen nahmen die Infektionszahlen langsam Fahrt auf. Am 21. August wurden erstmals mehr als 500 Corona-Neuinfektionen registriert, mehr als auf dem Höhepunkt der ersten Welle im Frühjahr. Einen Tag vorher verkündete Gesundheitsminister Adam Vojtech mit Blick auf rückkehrende Urlauber und den Beginn des neuen Schuljahrs zum 1. September vorbeugend eine landesweite Maskenpflicht in Geschäften, Gaststätten, Kneipen und Friseursalons.
Der "Shitstorm" in den sozialen Medien war derart heftig, dass Premier Andrej Babis die Maskenpflicht vom Tisch wischte und seinen Minister blamierte. Man solle doch jetzt nicht derart gravierend in den Alltag der Menschen eingreifen. Das werden die Historiker vielleicht einmal als den entscheidenden Fehler betrachten. Und mit dem Coronavirus ist es ein bisschen wie beim Schachspiel. Ein falscher Zug lässt sich kaum noch korrigieren.
Einst Sänger, später Minister
Wobei: Gesundheitsminister Vojtech hatte ohnehin kein gutes Standing. In Prag galt er als politisches Leichtgewicht. Über den immer noch jungen und einst ziemlich erfolgreichen Teilnehmer von "Tschechien sucht den Superstar" ließ sich gut lästern. Hinter ihm stand als Stellvertreter und Schwergewicht der altgediente Militärarzt und Chef-Epidemiologe Roman Prymula, der Tschechien durch die erste Welle gesteuert hatte.
Die Chemie zwischen beiden hat wohl nie richtig gestimmt. Prymula zog sich im Frühsommer aus der Regierung auf einen Beraterposten zurück. Vojtech blieb nach der Intervention von Babis noch einen Monat im Amt und trat am 21. September zurück. Sein Nachfolger ist besagter Prymula. Staatspräsident Milos Zeman rief dem Ex-Minister noch nach, das sei ein Schönwetter-Politiker gewesen - eine der typischen rhetorischen Blutgrätschen, für die Zeman bekannt und berüchtigt ist.
Regierung verweist auf Testzahlen
Mit dem 1. September begann die dritte Phase. Die Zahl der Neuansteckungen stieg unübersehbar und immer schneller: Auf über 1000 am 10. des Monats; drei Tage später schon auf 1500, weitere vier Tage später auf 2000. Als die ersten Nachbarländer Prag zum Risikogebiet erklärten, regierte Premier Babis etwas unwirsch: die Infektionszahlen seien nur wegen der vielen Tests so hoch, und außerdem gebe es wenige schwere Fälle und so gut wie keine Toten.
Die Opposition hatte den Regierungschef jedoch im Verdacht, dass er vor allem die Senats- und Regionalwahlen Anfang Oktober im Blick hatte: nach Möglichkeit keine unpopulären Maßnahmen vor der Abstimmung. Gerechnet hat sich dieses Kalkül freilich nicht.
Desinteresse an der Abstandsregel
Der Unwille des Regierungschefs entsprach dem der Bevölkerung, die sich in ihren wiedergewonnenen Freiheiten nicht einschränken lassen wollte. Nur ein Beispiel: Am 16. September eröffneten die Prager Philharmoniker ihre Saison mit ihrem neuen Chefdirigenten Tomas Brauner. Wie behördlich verlangt, war der Smetana-Saal in Blöcke mit separaten Eingängen für jeweils 500 Konzertbesucher aufgeteilt. Es galt Maskenpflicht. In den vorderen Reihen saßen die Leute dichtgedrängt, hinten saß niemand. Von Abstand keine Spur. Der Wille oder auch die Kraft zur Konsequenz waren verloren gegangen, und der politische Wille der Regierung auch.
Alles andere als fröhlich
Das hat sich nun geändert - erzwungenermaßen, angesichts von inzwischen 1100 Corona-Toten, einer Verdoppelung der schweren Fälle auf über 2000 und täglich 8000 Infektionen. Das Gesundheitswesen steht vor dem Kollaps.
Im Takt weniger Tage hat die Regierung unter dem Notstandsgesetz das gesellschaftliche, soziale und kulturelle Leben in Tschechien bis Anfang November stillgelegt. Nur ein kompletter Lockdown der Wirtschaft soll unbedingt vermieden werden. Die kommenden drei Wochen, so hat Gesundheitsminister Prymula angekündigt, werden für die Tschechen kompliziert und alles andere als fröhlich.
Tschechien dehnt Corona-Auflagen aus
Peter Lange, ARD Prag
14.10.2020 14:35 Uhr
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