Interview

US-Autor Shteyngart im Interview "Amerika verfällt im Schnelldurchlauf"

Stand: 29.07.2011 15:26 Uhr

In der US-Schuldenkrise ist eine Einigung weiter nicht in Sicht. Der Bestsellerautor Gary Shteyngart erklärt im tagesschau.de-Interview, wer Schuld daran hat, wie die Krise sich auf die amerikanische Seele auswirkt, was Obama falsch macht und warum es heute so schwer ist, einen guten Roman zu schreiben.

tagesschau.de: Der mächtigste Staat der Welt steuert auf die Zahlungsunfähigkeit zu, aus europäischer Sicht wirken die USA ziemlich hilflos -  nehmen Sie das als New Yorker auch so wahr?

Gary Shteyngart: Ich sehe es als reine Selbstverletzung. Es gibt ja keinen Grund für den Stillstand, außer diese kleine rechtskonservative Gruppe innerhalb der Republikaner - die Tea Party -  die um jeden Preis die Macht übernehmen will. Die Tea Party riskiert damit den vollständigen wirtschaftlichen Zusammenbruch der USA.

tagesschau.de: Glauben Sie noch an eine rechtzeitige Einigung vor dem 2. August?

Shteyngart: Es sieht täglich weniger danach aus. Aber ich denke immer noch, dass sich etwas bewegen wird. Die Wirtschaftskrise hat uns so schwer getroffen, dass ich nicht glauben mag, dass es am Ende keine Einigung geben kann.

Zur Person

Als Gary Shteyngart (39) vor einem Jahr seinen Roman "Super Sad True Love Story" auf Englisch veröffentlichte, traf er den Nerv der Zeit: Denn der in der UdSSR geborene New Yorker hatte eine präzise Vision des sozioökonomischen Zerfalls der USA geschaffen. Seither ist er ein weltweit gefragter Analyst amerikanischer Zustände. (Foto: Brigitte Lancombe)

tagesschau.de: Um diese Krise zu beenden, müssten Teile der Republikaner, eben jene Tea Party, doch erst einmal die Spielregeln der Politik akzeptieren. Zum Beispiel, dass es da so etwas wie einen Kompromiss gibt.

Shteyngart: Die Führung der Tea Party leidet unter Realitätsverlust. Sie ist mit einer absurden Mission angetreten: Sie will die Regierung loswerden, sabotiert dabei alles, was Präsident Barack Obama vorschlägt. Aber allein der Gedanke, dass eine moderne Gesellschaft mit einer 13- oder 14-Billionen-Dollar-Wirtschaft ohne staatliche Regulierung klarkommen soll, ist doch völlig verrückt.

"Gott hat uns die Herrschaft über den Erdkreis gegeben"

tagesschau.de: Die Blockade eines US-Präsidenten in Haushaltsfragen ist doch nicht ganz neu; zuletzt musste sich Bill Clinton damit herumschlagen, das war 1994. Zwei Jahre später wurde er dann trotzdem wiedergewählt.

Shteyngart: Ich finde, dass die Blockade in diesem Fall von einer Bösartigkeit ist, wie wir sie nicht einmal bei Clinton erlebt haben. Der regierte zudem in einer Ära uneingeschränkter amerikanischer Stärke. Davon kann heute nicht die Rede sein: Unsere politische und wirtschaftliche Vormachtstellung ist mehr oder weniger Geschichte.

tagesschau.de: Wie fühlt sich dieser Verlust von Macht und Größe für die Amerikaner an?

Shteyngart: Man muss sich eines klar machen: Die sehr frommen, konservativen, hart arbeitenden Menschen in diesem Land haben lange mit einem Gefühl gelebt, das sonst vielleicht nur noch die Russen kultivieren konnten: Gott hat uns die Herrschaft über den Erdkreis gegeben, wir sind das Land an der Spitze. Allerdings haben in den letzten ein, zwei Jahrzehnten andere Länder sehr erfolgreich unser Arbeits- und Wirtschaftsmodell kopiert, etwa Indien und China.

Das bedeutet vor allem für Weiße mit einfachen Schulabschlüssen, dass ihre bis dato einträglichen Fabrikjobs verloren gehen. Diese Menschen finden häufig keine gleichwertigen Jobs mehr, für sie ist die Entwicklung desaströs. Und unter anderem aus ihnen rekrutiert sich die Anhängerschaft der Tea Party.

"Franklin D. Roosevelt schubste zurück"

tagesschau.de: Nur dass ich es recht verstehe: Eine Partei, deren Einfluss auch den Stimmen der verarmten Mittelschicht zu verdanken ist, verhindert, dass die Reichen höhere Steuern zahlen?

Shteyngart: Das ist eine der vielen schizophrenen Entwicklungen, die uns die Radikalen von der Tea Party eingebracht haben.

tagesschau.de: Radikale Strömungen gab es auch in der US-Politik immer wieder, vor allem in Krisenzeiten ...

Shteyngart: ... stimmt, aber wenn beispielsweise Franklin D. Roosevelt herumgeschubst wurde, schubste er zurück. Anders als Barack Obama.

"Obama kuschelte mit Wall Street"

tagesschau.de: Das hört sich an, als ob Sie enttäuscht vom Krisenmanagement Obamas sind.

Shteyngart: Von Anfang an! Er hat besonders den Fehler gemacht, mit den Bankern und Börsenmaklern zu kuscheln. Die Kosten der Wirtschaftskrise trägt ja eher die Allgemeinheit als die Wall Street.

tagesschau.de: Im "Wall Street Journal" las ich, dass Sie eigentlich vor hatten, in Ihrem Buch Lehman Brothers, GM und Chrysler pleite gehen zu lassen ...

Shteyngart: Als ich 2006 angefangen habe, an dem Buch zu arbeiten, war der Plan, den graduellen Verfall und Abstieg Amerikas abzubilden. Ich wusste damals nicht, dass das alles quasi im Schnelldurchlauf geschehen würde. Es ist schwer für einen Schriftsteller, einen zeitgemäßen Roman zu schreiben, wenn seine Fantasie dauernd von der Wirklichkeit überholt wird.

tagesschau.de: In Ihrem Roman ist der Dollar nichts mehr wert, wenn er nicht an eine ausländische Währung gekoppelt ist. Wer kann, flieht in chinesische Yuan oder europäische Währungen. Nicht einmal Immobilien sind sicher: Wenn es der chinesische Investor verlangt, werden ganze Wohnblocks einfach geräumt, die Bewohner landen auf der Straße. Welche Vorkehrungen haben Sie persönlich getroffen, für den Fall, dass der Dollar noch weiter in den Keller rauscht?

Shteyngart: Ich habe Immobilien gekauft. Die haben aber im vergangenen Jahr drei Prozent an Wert verloren. Der Markt war offenbar noch nicht ganz im Keller. Und ich besitze Aktien, allerdings nur wenige. Generell bin ich ein sehr vorsichtiger Anleger.

Das Gespräch führte Christian Radler, tagesschau.de