Interview

Interview mit ARD-Korrespondent Klaus Scherer Reise durch ein irritiertes Land

Stand: 07.10.2008 02:16 Uhr

Kurz vor der Wahl ist ARD-Korrespondent Klaus Scherer durch die USA gereist, um zu erfahren, welche Themen das Land bewegen. Im Interview mit tagesschau.de schildert er seine Erfahrungen aus Begegnungen mit Menschen wie Charlie de Leo, dem Hausmeister der Freiheitsstatue.

Kurz vor der Präsidentschaftswahl ist ARD-Korrespondent Klaus Scherer durch die USA gereist, um zu erfahren, welche Themen die Menschen bewegen. Im Interview mit tagesschau.de schildert er seine Begegnungen. Die Lager, so Scherer, verfestigen sich, doch viele Wähler plagen tiefe Selbstzweifel.

tagesschau.de: Sie bereisen seit Wochen die USA für eine ARD-Reportage vor den Präsidentschaftswahlen. Der Wahlkampf wird von ungelösten Problemen dominiert – vom "Kampf gegen den Terror" über das marode Gesundheitssystem bis hin zur Immobilien- und Finanzmarktkrise. Haben Sie ein Land voller Selbstzweifel vorgefunden?

Klaus Scherer: Nicht durchweg. Aber die achtzig Prozent, die in Umfragen das Land auf einem falschen Kurs sehen, treffen sie natürlich auch im Alltag. Die Wirtschaftsmisere, der Schuldenstaat, die Inflation, die Kriege, das sorgt die Amerikaner täglich. Die Bush-Jahre haben sie abgehakt. Innen- wie außenpolitisch ist kaum einer stolz darauf. Allenfalls halten ihm manche zugute, dass es seit 9/11 keinen Anschlag mehr gab. Der Hurra-Patriotismus aber ist, vor allem bei jungen Leuten, tatsächlich Zweifeln gewichen. Sie wollen ein neues Image. Das heißt nicht unbedingt weniger Führungsanspruch. Superlative und Pathos sind hier nun mal Standard. John McCain weiß, warum er Amerikas Arbeiter die besten der Welt nennt, ebenso wie Gouverneur Schwarzenegger seine Feuerwehrleute, wenn sie mal wieder einen Waldbrand gelöscht haben. Durch Washington fährt kein Feuerwehrzug ohne wehende Fahne am Heck.

Trotzdem, auch Haudegen sind ernüchtert. Wir fragten in einem Saloon im tiefsten Montana, wo viele um ihre Söhne im Irak bangen, ob sie den Deutschen übelnahmen, dass sie nicht mit nach Bagdad gezogen sind. Da hieß es nur: "Wieso? Ihr habt es doch richtig gemacht. Bush und Cheney hätten das auch so entscheiden sollen." Das hatte ich anders erwartet.

tagesschau.de: Welche Rolle spielt der Präsidentschaftswahlkampf im Alltag? Ist es das Hauptgesprächsthema?

Scherer:  Eindeutig ja. Auch wenn es mal andere Tagesnachrichten gibt, wie eine neue Wall-Street-Pleite, ist die nächste Frage gleich, wer ist schuld, und wer kann es ändern. Die Fernsehduelle haben Rekordeinschaltquoten. Am Flughafen oder im Zug hören sie in Gesprächsfetzen verlässlich die Worte "O-ba-ma" oder "Pa-lin". So oder so drehen sich die Gespräche meist um diese beiden. Sobald sich ein Lager im Aufschwung sieht, ist es hörbar beflügelt. Die Unentschiedenen werden umworben, während sich die Stamm-Anhänger immer mehr hassen. Das wird dann auch öffentlich ausgetragen. Der Zugschaffner in den Rocky Mountains sagte uns inmitten seiner Fahrgäste, es werde Zeit, dass dieses Land George W. Bush loswerde. Auch wenn ihn dann gleich einer anknurrte, er wäre eigentlich lieber uns los. Nicht weil er anderer Meinung war, sondern weil er an uns vorbei aufs Klo wollte.

tagesschau.de: Geht es bei den Diskussionen wirklich nur um Personen oder stehen auch Sachthemen im Vordergrund? 

Scherer:  Das ist schwer zu ermessen. Zuletzt wechselte das von Woche zu Woche. Nach der Nominierung von Sarah Palin ging es fast ausschließlich um das, was Amerikaner alles mit ihr verbinden. Sie waren für oder gegen sie, so wie sie zuvor für oder gegen Obama waren, bevor sie über McCain nachdachten. Seit dem Bankencrash schieben sich wieder die Sachthemen vor. Allerdings weiß man nie, wie viele Befragte Inhalte anführen, nur um einen Kandidaten abzulehnen, den sie ohnehin nicht wählen würden, zum Beispiel weil er schwarz ist oder über siebzig.

Traditionell wurden hier Wahlen eher durch persönliche Images entschieden. Und zwar weniger dadurch, dass man die Stärken des eigenen Kandidaten herausstellte, als dadurch, dass man den Gegner diskreditierte, ihm Angstmach-Etiketten anklebte, bis zur "Character Assassination", zum offenen Rufmord. Das wird in den nächsten Wochen auch noch spürbar werden. Obwohl das auch nach hinten losgehen kann. Wir haben mit einem erfahrenen "Hitman" der Republikaner gesprochen, der solche Negativ-Anzeigen produziert. Der sagte, er sei überrascht, wie wenig das in dieser Saison funktioniert habe.

tagesschau.de: Wie kommen die Kandidaten bei den Wählern an? Wer will wen warum wählen?

Scherer:  Grundsätzlich habe ich den Eindruck, dass sich Obama überall Anerkennung und Respekt verdient hat, weil er mitreißende Reden halten kann und viele Jungwähler in die Politik holte. McCain wiederum macht niemand seine Verdienste als Soldat streitig, oder, wie man hier lieber sagt, als Kriegsheld. Bekanntermaßen sind junge Leute, Farbige und Städter eher für Obama. Wenn wir im Militärcamp in Kansas nach dem Wunschkandidaten fragen, sind sie natürlich eher für McCain. Reden wir mit Bauern in Iowa, sagen sie achselzuckend, wir sind nun mal konservativ, und Obama ist liberal, was hier so viel heißt wie Sozialist. Will heißen: Über Details müssen wir nicht mehr diskutieren. Umgekehrt ist Kalifornien Demokraten-Land. In Südstaaten wie Tennessee finden Sie weiterhin Leute, die Obama für einen Muslim halten, weil sie das irgendwann mal in Fox-News hörten und als Argument hilfreich finden. Es gibt dort Männer, die ihren Frauen sagen, du kannst Obama wählen, aber rede wenigstens nicht darüber. Ich habe dort sogar das Argument gehört, es sei Rassismus, dass Schwarze Obama wählten. Umgekehrt wählen manche Kalifornier ihn nicht, weil sie auch mit Obama inzwischen einen Krieg mit Pakistan fürchten.

tagesschau.de: Die finanzielle Lage spielt für die US-Amerikaner eine besonders große Rolle. Was sind die Hauptstreitpunkte zwischen den Anhängern der Demokraten und Republikaner?

Scherer:  Das Allzweck-Argument der Konservativen ist seit jeher der Vorwurf, die Demokraten würden Steuern erhöhen und Geld verschwenden, etwa für Gesundheitsausgaben. Trotz allem, was gerade Schlagzeilen stürmt: Das Stichwortpaar Steuern und Staatsausgaben löst hier stets Reflexe aus. Für Außenstehende mutet das grotesk an, zumal in Zeiten, da die Bush-Regierung jeden Monat zwölf Milliarden Dollar im Irak ausgibt und mal eben mit 700 Milliarden das Finanzsystem rettet. Der Krieg selbst ist als Thema nach hinten gerückt. Und was die Banken angeht, sind die Amerikaner hin und her gerissen, allein schon weil auch sie ihre Altersversorgung in der Wallstreet angelegt haben. Die für ein Industrieland klägliche Krankenversorgung ist vielen wichtig, auch unter Konservativen. Die wissen längst, dass ihr kommerzielles Modell die Kranken im Stich lässt.

Ob sie daraus ihre Wahlentscheidung ableiten, ist eine andere Frage. "Wissen Sie, Obama will den Reichen Geld wegnehmen und es den Armen geben", sagte uns einmal ein Mitreisender, und sicherlich kein Reicher, "das ist nicht sehr amerikanisch." Da wusste ich wieder, warum es hier kein Solidarsystem gibt. Dabei ist es schockierend, mit anzusehen, wie sich an einem beliebigen Samstag hunderte Menschen vor einer Notklinik anstellen, um sich kostenfrei kranke Zähne ziehen zu lassen. Wenn die den Raum verlassen, sind sie die glücklichsten Menschen der Welt. Eine junge Frau, die so sechzehn Zähne loswurde, hatte sich schon mit einem glühenden Kleiderhaken alle schmerzenden Nerven abgetötet. Der Initiator dieser Wochenend-Lazarette war früher Entwicklungshelfer im Amazonasdelta. "Da brauchen wir nun nicht mehr hin", sagte er uns. "Inzwischen können wir das alles zu Hause machen."

tagesschau.de: Was denken die Wähler, welcher Kandidat die Wahl gewinnen wird?

Scherer: Immer der, der gerade in den Umfragen vorne liegt. Obwohl sie diesen Zahlen nicht wirklich trauen und erfahrungsgemäß auch nicht trauen können. Deshalb ist bei den Demokraten die Angst zu greifen, McCain und Palin könnten am Ende doch noch einen Pfeil aus dem Köcher ziehen, der Obama lähmt. Umgekehrt scheinen die Hardcore-Konservativen fassungslos, sobald sie sich ausmalen, dass es dieses Mal tatsächlich nicht reichen könnte

Die Fragen stellte Ralph Sartor, tagesschau.de.

Das Interview führte Klaus Scherer, NDR