Russlands Selbstverständnis und der Zweite Weltkrieg Siegesrhetorik, Symbolik und das nationale Bewusstsein

Stand: 01.09.2009 09:39 Uhr

Der Zweite Weltkrieg oder der "Große Vaterländische Krieg" wie er in Russland genannt wird, spielt in Russland nach wie vor eine große Rolle. Der Sieg über Hitler-Deutschland ist für das nationale Selbstverständnis von besonderer Bedeutung. Gedenktage werden von Alt und Jung gleichermaßen enthusiastisch begangen – und keineswegs nur auf Anordnung von Oben. 

Von Christina Nagel, ARD-Hörfunkstudio Moskau

"Der Große Vaterländische Krieg ist eine Epoche der Furchtlosigkeit, eine Zeit der Stärkung des Geistes und des Triumphes der Ehre. Dort, wo die Quellen des Sieges liegen, finden wir auch heute unsere Kraft und unsere geistige Stütze." 

In manchen Ohren mögen diese Worte Wladimir Putins pathetisch klingen - in Russland gelten sie als angemessen. Kriegs-Gedenktage wie der 9. Mai, der Tag des Sieges über Hitler-Deutschland, sind höchste staatliche Feiertage. "Heilige Daten", wie Präsident Dimitri Medwedjew sagt. Brautpaare legen selbstverständlich Blumen am Grabmal des unbekannten Soldaten nieder, lassen sich am Ewigen Feuer fotografieren. Das Gedenken wird generationsübergreifend und symbolträchtig in Ehren gehalten.

Siegesrhetorik, Siegessymbolik und das nationale Bewusstsein

Dem Kreml liegt viel daran, die heroischen Tugenden der Soldaten herauszustellen. Sie sollen als Vorbild dienen. Die Verteidigung des Vaterlandes soll nicht als Pflichtübung, sondern vielmehr als Frage der Ehre wahrgenommen werden. Sie sei eine "heilige Pflicht" und diene als "moralische Grundlage für alle Generationen", so Medwedjew.

 Dass nicht zwangsläufig etwas hinter der hehren Moral-Rhetorik stecken muss, zeigt ein Blick in den Alltag: Veteranen des Zweiten Weltkrieges, die bei Gedenktagen geehrt werden, müssen längst um früher gewährte Vergünstigungen kämpfen. Andere Kriegsteilnehmer, wie die Soldaten der Tschetschenienkriege, werden mit ihren Traumata allein gelassen. Sie gelten als Verlierer, nicht als Sieger.

"Stützpfeiler des Nationalbewusstseins"

Das offizielle Beschwören früherer Heldentaten der Roten Armee dient der russischen Führung auch dazu, die ruhmreiche sowjetische Vergangenheit mit der noch jungen russischen Gegenwart zu verknüpfen. Für den Historiker Michail Mjagokow sei dies besonders für die jüngere Generation von Bedeutung. In den 90er Jahren sei in Russland vieles schlecht gelaufen, so Mjagokow. Die Leute sprachen nicht von "unserem Land, sondern von diesem Land". Heute wollen die Russen wieder stolz auf ihr Land sein. Dieser Stolz basiere auch auf der kollektiven Siegeserfahrung.

Studien des renommierten Moskauer Lewada-Zentrums belegen dies. Im Bewusstsein der Bevölkerung sei der Zweite Weltkrieg als Beweis für die Größe, die Macht und die Zähigkeit der russischen Nation fest verankert, sagt der Direktor des Zentrum, Lev Gudkov. Der Zweite Weltkrieg diene dabei als "stärkstes Symbol" und als "Stützpfeiler des Nationalbewusstseins".

Kein Platz für die Schattenseiten des Krieges

Ein Pfeiler, an dem der Kreml keinen Kratzer mehr dulden will. Über die Schattenseiten des Krieges, Verbrechen der Roten Armee soll der Mantel des Schweigens gehüllt werden. Viele Archive, die sich zu Perestroika-Zeiten öffneten, wurden wieder geschlossen. Stalin wird in Geschichtsbüchern wieder als der große Vater der Völker bezeichnet. Terror und Gewalt werden zur politischen Notwendigkeit umdeklariert.

Medwedews Kommission gegen eine 'Falsifizierung der Geschichte'

Präsident Medwedjew hat darüber hinaus eine Kommission eingesetzt. Sie soll, wie es heißt, eine Falsifizierung der Geschichte zum Nachteil der Interessen Russlands verhindern. Wer – wie jüngst in der Ukraine oder im Baltikum – die Rote Armee mit nationalsozialistischen Besatzern gleichstellt, riskiert in Russland Geld- und Gefängnisstrafen.

Sergej Kudrjaschow, wissenschaftlicher Mitarbeiter des Deutschen Historischen Instituts in Moskau wundert das nicht. Russland sei sehr empfindlich, was die Interpretation seiner Rolle im Zweiten Weltkrieg angehe. Für viele Russen sei jede Art dieser Kritik schmerzhaft. "Es ist für sie Kritik an ihrem ganzen Leben."

Statt unangenehmer Wahrheiten beschäftigen sich die, die sich Patrioten nennen, lieber mit Helden-Epen vergangener Zeiten, wie sie der Fernsehkanal "Svesda" zeigt. Junge, poetisch veranlagte Soldaten kämpfen hier für das Vaterland. Dort heißt es: "Es gibt diesen Beruf, der auch Berufung ist, die Heimat zu verteidigen..."