Nach dem Ja zur Verfassungsreform Rückenwind für Erdogan

Stand: 13.09.2010 15:31 Uhr

Nach dem Sieg beim Referendum macht die türkische Regierung Tempo: Man werde nun schnell eine neue Verfassung ausarbeiten, sagte Ministerpräsident Erdogan. Der Opposition reichte der konservative AKP-Chef die Hand. In das Wahljahr 2011 geht Erdogan mit breitem Kreuz.

Von Steffen Wurzel, ARD-Hörfunkstudio Istanbul

Den Tag eins nach dem Verfassungsreferendum hatte sich Kemal Kilicdaroglu anders vorgestellt. Eigentlich wollte der Chef der größten türkischen Oppositionspartei CHP heute mit seinen Anhängern den Sieg des Nein-Lagers feiern. Doch es kam völlig anders. Die Türken haben beim Referendum gestern Ja gesagt - und zwar deutlich.

Als ob das nicht Schmach genug wäre muss sich Kilicdaroglu heute auch noch Hohn und Spott anhören. Hintergrund ist ein peinlicher Faux-Pas: Kilicdaroglu, die Verkörperung des Nein-Lagers, konnte gestern selbst keine Stimme abgeben. Er hatte vergessen, sich nach einem Umzug rechtzeitig beim Einwohnermeldeamt zu registrieren. Deswegen stand er nicht auf der Wählerliste in seinem Istanbuler Wahlbezirk und durfte nicht abstimmen.

Oppositionschef wiegelt ab

Inzwischen hat sich der CHP-Chef bei seinen Anhängern entschuldigt, und auch politisch hat er sich bereits geäußert. Das klare Votum der Türken für ein Ja sei keineswegs ein Sieg für Ministerpräsident Tayyip Erdogan und seine religiös-konservative AKP. "Nicht alle, die mit Ja gestimmt haben, sind automatisch potentielle AKP-Wähler. Auch Anhänger anderer Parteien haben mit Ja gestimmt. Man darf diese Abstimmung nicht als Erfolg oder Misserfolg einzelner Parteien ansehen. Das wäre falsch."

Auch wenn der türkische Oppositionschef abwiegelt: Der klare Ausgang der Volksabstimmung ist ein Erfolg für die AKP von Erdogan. Sie konnte die enorme Wahlkampf-Materialschlacht der vergangenen Wochen für sich entscheiden und geht gestärkt in das Wahljahr 2011 - spätestens in einem Jahr wird in der Türkei ein neues Parlament gewählt.

Staatsmännischer Auftritt

Der Ministerpräsident gab sich auf der Wahlparty des Ja-Lagers staatsmännisch. Wahrer Gewinner der Abstimmung sei die türkische Demokratie. Die Änderungen der Verfassung seien historisch betonte er mehrfach. In Richtung seiner politischen Widersacher gab sich Erdogan versöhnlich: "Wir haben uns auf den Plätzen des Landes und im Fernsehen teilweise heftig gestritten. Es ging auch nicht immer nur ums Referendum. Das alles sollten wir jetzt hinter uns lassen und eine neue Seite aufschlagen. Falls ich im Wahlkampf jemanden gekränkt haben sollte, entschuldige ich mich dafür."

Mehr Grundrechte

Durch die gestern beschlossene Reform der Verfassung bekommen die Türken mehr Grundrechte, unter anderen wird der Datenschutz gestärkt, es wird eine zentrale Bürger-Beschwerdestelle eingerichtet, außerdem werden die Rechte von Kindern gestärkt. Darüber hinaus wird die Rolle des türkischen Militärs weiter geschwächt, unter anderem verlieren die Militärgerichte an Einfluss.

Der umstrittenste Punkt des Verfassungsänderungspakets war im Wahlkampf die Justizreform. Kernpunkt ist hier der Einfluss der Parlamentarier auf die Zusammensetzung des obersten Gerichts. Dieser Einfluss des Parlaments wird durch den Ausgang des Referendums gestärkt.

Mehr Demokratie oder auf dem Weg in die Diktatur?

Ministerpräsident Erdogan argumentiert: Durch diese Reform werde die türkische Justiz westlicher. Ganz anders sieht das der Generalsekretär der nationalistischen Oppositionspartei Cihan Pacaci. Mit Blick auf die Tatsache, dass von der Stärkung des Parlaments zur Zeit die regierende AKP profitiert sagte er: "Ab heute konzentriert sich in der Türkei alle Macht auf eine bestimmte Gruppe. So etwas nennt man auf der ganzen Welt üblicherweise nicht Demokratie, sondern totalitäres Regime oder eine Diktatur."

Ministerpräsident Erdogan lassen solche Vorwürfe kalt. Er verweist stattdessen auf die Reaktionen von Seiten anderer europäischer Regierungen und der EU auf das Referendum. Und die sind zumindest tendenziell positiv.