Die kroatische Polizei begleitet Migranten über die grüne Grenze von Kroatien nach Bosnien-Herzegowina.
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Illegale Pushbacks Kroatien schiebt Schutzbedürftige ab

Stand: 23.06.2021 18:13 Uhr

Die kroatische Polizei schiebt besonders schutzbedürftige Menschen über die EU-Grenze nach Bosnien und Herzegowina ab, wie ARD-Recherchen zeigen. Die Regierung in Zagreb dementiert, illegal zu handeln.

"Ich habe Schmerzen", sagt die junge Frau aus Afghanistan leise. Ihr Blick ruht auf den Jungen, die neben ihr stehen, drei, fünf, sechs und sieben Jahre alt. Ihr runder Bauch ist unter dem roten Blusenkleid deutlich zu sehen - sie ist im achten Monat schwanger und steht ausgelaugt auf einem Waldweg im kroatisch-bosnischen Grenzgebiet. Die Gruppe aus Kabul ist von der kroatischen Polizei illegal abgeschoben worden.

Sie seien fast bis nach Zagreb gelaufen, erzählen sie. Polizisten hätten sie dort aufgriffen. Die Bitte, die Schwangere ins Krankenhaus zu bringen und geäußerte Asylabsichten hätten die kroatischen Polizisten ignoriert, erzählen sie erschöpft. Stattdessen nehmen die Polizisten den Familien Mobiltelefone, Powerbanks und Geld ab und fahren sie an die EU-Grenze mit Bosnien und Herzegowina zurück - mit ihnen ein acht Monate altes Baby.

Eine Gruppe mit einer Schwangeren und Kindern zwischen Kroatien und Bosnien-Herzegowina.

Eine Gruppe mit einer Schwangeren und Kindern zwischen Kroatien und Bosnien-Herzegowina.

Erstmals illegale Familien-Pushbacks gefilmt

Der Pushback dieser afghanischen Familie ist kein Einzelfall. An der grünen Grenze nahe dem bosnischen Ort Glinica filmte das Rechercheteam von ARD-Studio Wien, Lighthouse Reports, SRF Rundschau, "Der Spiegel" und "Novosti" insgesamt sechs illegale Gruppenabschiebungen, sogenannte Pushbacks. Betroffen: Rund 65 Menschen, darunter 20 Kinder. Die Aufnahmen von Ende Mai 2021 zeigen erstmals, wie kroatische Polizisten ganze Familien durch den Wald eskortieren. Zu sehen sind Mütter mit Kindern, ein Vater mit Baby. Auch die hochschwangere Afghanin sowie ein alter herzkranker Mann mit Krücke.

Migranten gehen über die grüne Grenze zwischen Kroatien nach Bosnien-Herzegowina.

Migranten im Grenzland zwischen Kroatien nach Bosnien-Herzegowina - unter ihnen auch ein Mann mit Krücke.

Auf Anfrage des ARD-Studios Wien und der Recherchepartner teilte das kroatische Innenministerium mit, dass es sich bei den Aktionen um legale Einreiseverweigerungen direkt an der Grenze gehandelt habe. Hierbei sei es nicht notwendig, die "Bedürfnisse der Migranten" festzustellen. Beim "Grenzschutz" halte sich Kroatien an nationale und internationale Regeln.

Dabei ignoriert das Innenministerium von Davor Božinović allerdings, dass die Schutzsuchenden nach eigener Aussage bereits tief in Kroatien waren und ausdrücklich um Asyl ersucht haben. EU-Recht verbietet in diesem Fall eine Abschiebung und schreibt ein individuelles Asylverfahren vor.  

EU-Innenkommissarin Johannson kritisiert nur schwach

Am 22. Mai 2021 führen kroatische Polizisten weitere Menschen durch den Wald. Zuvor tauchen zwei Angehörige der kroatischen Polizei auf, eine Frau und ein Mann. Diesen können wir eindeutig identifizieren - mit Namen und Polizeistation. Mit einem Fernglas suchen sie die Gegend routiniert nach möglichen Zeugen ab: Es ist ihnen also durchaus bewusst, dass ihr Vorgehen illegal ist. Dann kommt eine kurdische Familie aus dem Iran herbei - mit ihnen eine verletzte Frau und ein kleines Mädchen. Der kroatische Polizist schaut der Gruppe nach und geht. Dieser Pushback wäre erledigt. 

Kroatische Polizei kundschaftet das Grenzgebiet zwischen Kroatien nach Bosnien-Herzegowina aus.

Kroatische Polizeikräfte kundschaften das Grenzgebiet zwischen Kroatien nach Bosnien-Herzegowina aus.

Wir zeigen einen Teil der Pushback-Aufnahmen der EU-Innenkommissarin Ylva Johannson. Anhand eines kurzen Videos sei das Geschehen schwer zu beurteilen, sagt die Schwedin. Die Probleme an der Grenze seien nicht gelöst, aber der kroatische Regierungschef Andrej Plenković wolle sicherstellen, dass Kroatien seine Außengrenzen in Einklang mit Grundrechten schütze. Auch der unabhängige Monitoring-Mechanismus an der Grenze könne beginnen. Kroatien sei für einen Beitritt in die Schengen-Zone bereit, so Johannson.

Kroatien blockiert Anti-Folter-Bericht des Europarats

Flüchtenden und Migranten werden nicht nur systematisch Kleidung, persönlicher Besitz, Handys und Geld abgenommen. Auch Gewalt ist gut dokumentiert, etwa durch NGOs wie "Border Violence Monitoring": Schläge, Hundebisse, Elektroschocks, sexualisierte Gewalt oder Erniedrigungen wie der Befehl, sich gegenseitig zu schlagen.

Das Anti-Folter-Komitee des Europarates untersuchte im Sommer 2020 unangekündigt, wie die kroatische Polizei Flüchtende und Migranten behandelt. Nach Informationen des ARD-Studios Wien und seinen Recherchepartnern bestätigt der Bericht die Menschenrechtsverletzungen an der Grenze überdeutlich, und Zagreb wehrt sich vehement gegen die Veröffentlichung. Menschenrechtler vermuten, dass der vernichtende Bericht einer wichtigen europäischen Institution den Beitritt zur Schengenzone verhageln könnte. Das kroatische Innenministerium bestreitet das.

Der Rechercheverbund trifft Ende Mai auch einen fast siebenjährigen Jungen aus Afghanistan mit körperlichen und geistigen Einschränkungen, der mit seiner Familie illegal abgeschoben wurde. Eine große Narbe verläuft quer über seinen Kopf; unruhig liegt er in den Armen seines Onkels. Die Gruppe hat in einem zugigen Rohbau im kroatisch-bosnischen Grenzgebiet ihre dünnen Plastikzelte aufgeschlagen. "Wir haben nach Asyl gefragt", sagt der junge Afghane bedrückt, "Doch sie sagten: 'Das ist mein Land. Du bist ein Flüchtling, geh nach Bosnien zurück.'"

Dieses von der libyschen Küstenwache zur Verfügung gestellte Foto zeigt afrikanische Migranten, die im Osten der libyschen Hauptstadt in einem Boot an Land gebracht werden, Archivbild.

Die EU-Grenzschutzagentur spielt eine entscheidende Rolle bei der Rückführung von Flüchtlingen nach Libyen. mehr

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete Deutschlandfunk am 24. Juni 2021 um 05:54 Uhr in der Sendung "Informationen am Morgen".