Malgorzata Gersdorf bei einer Demonstration in Warschau
Interview

Polens Oberste Richterin "Eigenständigkeit der Justiz wird illusorisch"

Stand: 23.07.2018 20:06 Uhr

Mit der polnischen Justizreform wurde die Präsidentin des Obersten Gerichts zwangspensioniert. Doch weil sie die Reform für gefährlich hält, kommt sie weiter zur Arbeit.

tagesschau.de: Frau Gersdorf, warum kommen sie zur Arbeit? Nach Ansicht der Regierung sind Sie nicht mehr die Vorsitzende des Obersten Gerichts.

Malgorzata Gersdorf: Nach meiner Auffassung aber doch. Der Präsident behauptet, dass ich es nicht bin. Und ich behaupte, indem ich mich auf die Verfassung berufe, dass ich die erste Vorsitzende des Obersten Gerichts bis 2020 bin. Das kann keiner ändern. Verfassung ist Verfassung.

Magorzata Gersdorf
Zur Person

Die 65-jährige Malgorzata Gersdorf ist seit 2014 Präsidentin des Obersten Gerichts in Polen. Die promovierte Juristin beruft sich auf Artikel 183 der polnischen Verfassung, der ihre Amtszeit auf sechs Jahre festlegt - also bis 2020.

Allerdings senkte die rechtskonservative polnische Regierung mit der umstrittenen Justizreform Anfang Juli die Altersgrenze für die Pensionierung von bislang 70 auf 65 Jahre. Wegen dieser Reform leitete die EU ein Vertragsverletzungsverfahren gegen Warschau ein.

Seit dem 4. Juli erscheint Malgorzata Gersdorf trotz ihrer Zwangspensionierung zur Arbeit.

tagesschau.de: Sie werden von der Regierung, dem polnischen Präsidenten und dem Ministerpräsidenten als "im Ruhestand" bezeichnet. Warum nehmen Sie persönlich diesen Konflikt auf sich?

Gersdorf: Ich kämpfe nicht um meine Stelle: Ich bin Professorin, unterrichte an der Universität und ich habe einen guten Ruf als Juristin im Bereich des Arbeitsrechts. Wenn ich nur um mich selbst kämpfen und an mich denken würde, hätte ich schon längst aufgehört. Denn der ganze Stress, dem ich dabei ausgesetzt bin, ist sehr intensiv und er hat auch mit Verleumdungen zu tun. Von Menschen, die mit der regierenden Partei verbunden sind und für etliche Medien arbeiten, die sehr negative Sachen über mich schreiben. Entweder, dass ich eine deutsche Jüdin bin - das sind die nationalen Töne - oder dass ich als Mitglied der kommunistischen Partei tätig war und neben Gierek - dem ersten Sekretär damals - stand. Ich war nie Parteimitglied - weder ich noch jemand aus meiner Familie.

Trotz der zwangsweisen Versetzung in den Ruhestand kam Malgorzata Gersdorf am 4. Juli 2018 zu ihrem Arbeitsplatz.

Trotz der zwangsweisen Versetzung in den Ruhestand kam Malgorzata Gersdorf am 4. Juli 2018 wieder an ihren Arbeitsplatz.

"Gerichte werden von der Regierung abhängig"

tagesschau.de: Das Gesetz zum Obersten Gericht ist nur ein Teil der umstrittenen Justizreform. Wie beurteilen Sie diese?

Gersdorf: Es ist gar keine Reform, die das Funktionieren der Justiz verbessern soll, obwohl das das Motto dieser Reform war. So wurden die Bürger von der regierenden Partei informiert, dass die Reform zum Ziel hat, dass die Gerichtsverfahren nicht so lange dauern, dass alles schneller vorankommt. In diese Richtung hat die regierende Partei nichts getan.

Die eigentliche Änderung besteht darin, dass die ordentlichen Gerichte und neulich auch das Oberste Gericht von der Exekutive abhängig werden sollen. Das ist die Gefahr, gegen die ich und andere Richter kämpfen, denn wir sind der Auffassung, dass ein demokratischer Rechtsstaat, der als politische Doktrin in der Verfassung steht, in der Teilung der Macht besteht - in der Dreiteilung der Macht und der Eigenständigkeit der Justiz. Diese Eigenständigkeit wird illusorisch, wenn der Justizminister so viel zu sagen hat bezüglich der Ernennung von Richtern im Landesjustizrat - zumal dieser Rat Richter anstellt und Stellungnahmen abgibt. Es ist also sehr gefährlich.

Wir beobachten gerade den letzten Schritt der Veränderungen in den polnischen Gerichten: die Verringerung der Zahl der "alten" Richter des Obersten Gerichts. Es werden dafür neue Richter angestellt, bereits im Laufe eines neuen Verfahrens, vom Landesjustizrat, der jetzt absolut politisch ist.

tagesschau.de: Jetzt gibt es noch eine Gesetzesnovelle, nach der unter anderem der Landesjustizrat gestärkt und neue Richter beim Obersten Gericht weniger Erfahrung nachweisen müssen als bisher. Wie beurteilen Sie die Novelle?

Gersdorf: Seit April gab es bereits fünf Novellen, das wird die fünfte Änderung des neuen Gesetzes über das Oberste Gericht sein. Das passiert, weil die Gesetze zu schnell eingeführt werden. Anscheinend fehlen der regierenden Partei einige Elemente dabei. Diese letzte Novelle hat zum Ziel, dass das Oberste Gericht so schnell wie möglich mit neuen Menschen besetzt wird. Damit soll der Präsident von allen neuen Richtern den einen auswählen können, der stellvertretender Erster Vorsitzender des Obersten Gerichts wird. Bislang war damit kein Richter des Obersten Gerichts einverstanden.

"EU-Verfahren dauert zu lange"

tagesschau.de: Es gibt ein Vertragsverletzungsverfahren der Europäischen Union wegen der Justizreform gegen Polen.

Gersdorf: Die EU kennt die Lage sehr wohl. Höchstwahrscheinlich dauern all die EU-Verfahren sehr lange, denn wir haben nicht nur mit Artikel 7 zu tun, sondern vielleicht auch mit einer Klage beim Gerichtshof in Luxemburg. Ich weiß nicht, ob es eine gute Lösung ist, aber es dauert lange. Für uns zu lange.

Malgorzata Gersdorf

Malgorzata Gersdorf bei einem Besuch in Karlsruhe. Die deutsche Justiz unterstützt die zwangspensionierte Oberste polnische Richterin.

tagesschau.de: Sind viele Menschen besorgt über die Entwicklung in Polen?

Gersdorf: Es ist nicht nur ein polnisches Problem. Es ist ein europäisches Problem: Plötzlich melden sich Menschen zu Wort, die sich in den vergangenen Jahren ausgeschlossen und unterschätzt fühlten. Wir dachten, nachdem wir die Freiheit erlangt hatten, dass das wunderbar ist und dass es für jeden in Polen offensichtlich ist. Es zeigte sich aber, dass man viel zu wenig Wert auf Bildung gelegt hat zum Thema: Was bedeutet die Freiheit wirklich?

Die Menschen, die jetzt weitgehend die regierende Partei unterstützen, verstehen meines Erachtens nicht, was für eine große Bedeutung diese Prinzipien und die Verfassung haben. Sie sehen lediglich die Familienzuschüsse, wie die Programme 500+ oder 300+ für die Kinder, zusätzlich zu den Hilfeleistungen für die Ärmeren. Und sie sind doch gleichzeitig die Wähler, sind aber kurzsichtig.

Die Gesellschaft wurde nicht ausreichend genug gebildet. Ich als Professorin und Universitätslehrerin denke, dass wir in diesem Bereich nicht fehlerfrei sind. Auch bei der letzten Stufe hätte man die Menschen besuchen sollen und ihnen erklären, worin das besteht - die Dreiteilung der Macht und worin die Verfassung besteht. Aktuell bietet der Richterverband Justitia solche Vorträge an, aber jetzt ist es zu spät.

tagesschau.de: Was tun sie, wenn ihr Nachfolger zu ihnen ins Büro kommt?

Gersdorf: Ich werde mich nicht an den Heizkörper anketten. Mal schauen, wer kommt, wie und in welcher Form. Es wird sicherlich jemand kommen innerhalb der kommenden zwei bis drei Wochen. Das steht für mich außer Frage.

Das Interview führte Olaf Bock, WDR

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete das Europamagazin am 22. Juli 2018 um 12:45 Uhr.