
Niederlande Häuser, die in Trockenheit versinken
Stand: 15.11.2020 10:29 Uhr
Um nicht unter dem Meeresspiegel zu versinken, pumpten die Niederlande jahrhundertelang ihr Land trocken. Doch nun stehen viele Wohnhäuser auf ausgedörrtem Fundament - und sacken dadurch gefährlich ab.
Von Gudrun Engel, ARD-Studio Brüssel
"Wenn wir nicht schnell etwas ändern, werden wir drei bis vier Millionen Häuser verlieren!" So schildert Dick de Jong, Städtebau-Ingenieur und Leiter des Zentrums für Fundamentsprobleme die aktuelle Situation in den Niederlanden. Denn so viele Häuser sind auf Holzpfähle gebaut - 400.000 Immobilien sind bereits von morschen Fundamenten betroffen.
Pieter und Ellen Dekker haben für ihren Traum vom Landleben und ihre 15-jährigen Zwillinge 2005 einen einsamen Bauernhof in Spange am Südrand von Friesland gekauft. Das alte Gebäude aus dem Jahr 1864 hat Charme, Ellen hat sich sofort in die Stockrosen an der verwitterten Außenfassade verliebt. Eine baukundliche Untersuchung sagte damals noch: alles in Ordnung. Zehn Jahre lang haben sie mit Liebe renoviert. "Es ist unser absolutes Traumhaus", berichtet Ellen Dekker, "aber unser Traum hat Risse bekommen - im wahrsten Sinne des Wortes"!
2012 zeigte sich der erste Riss, hinten an der Scheune, da ahnten sie noch nichts. 2016 begannen die Probleme: Eine Ritze am Fenster hier, eine klemmende Tür dort. Im trockenen Sommer 2018 führte die Regenrinne plötzlich in die andere Richtung, überall neue Risse, die sichtbar wachsen. Es kracht und arbeitet im Gebälk. Eine Inspektion ergab: Das Fundament ist durch den sinkenden Grundwasserspiegel verrottet. Ihr Haus ist schon ganze zwölf Zentimeter abgesackt, das Vorderhaus von den Holzfundamenten gerutscht. Bald wird es unbewohnbar sein. Die Balken unter dem Fundament sind morsch und nicht mehr zu retten - ein Schaden von einer halben Million Euro.
Nutzen der Landwirtschaft, Schaden der Hausbewohner
Die Niederlande sind von Entwässerungskanälen durchzogen. Für die Landwirtschaft wird der Grundwasserspiegel künstlich niedrig gehalten, damit Kühe keine nassen Klauen bekommen und die schweren Traktoren nicht versinken. Die vergangenen Dürresommer verstärken das Phänomen: Die trocknenden Moorböden setzen große Mengen CO2 frei - das wiederum beschleunigt den Klimawandel. Ein Teufelskreis.
Für Häuser wie das von Familie Dekker bedeutet das: Das Fundament wird morsch. Auf den weichen sandigen und moorigen Böden wurden die Häuser, ähnlich wie in Venedig, auf massive Holzbalken gebaut. Diese Pfähle stehen stabil, solange sie unter Wasser konserviert sind. Durch den sinkenden Wasserspiegel fallen die Balken trocken und Sauerstoff dringt an sie heran - so fangen sie an zu faulen und zu rotten und können das Fundament nicht mehr tragen.
Versinkende Häuser in den Niederlanden
Weltspiegel, 13.11.2020, Gudrun Engel, ARD Brüssel
Damit entsteht ein massiver Konflikt zwischen Hausbesitzern und Landwirten: Würde man aufhören zu pumpen, um die Häuser zu retten, wäre Landwirtschaft nicht mehr möglich. Der Klimawandel und die trockenen Sommer wirken wie ein Katalysator auf den Prozess. Je weniger Wasser im Boden ist, desto schneller und schlimmer wird es.
Überall in den Niederlanden stehen Windmühlen idyllisch in der Landschaft - nicht als touristisches Fotomotiv, sondern weil sie nach einem ausgeklügelten System die Pumpen antreiben, die das Land überall entwässern. Das Land ist ein Flickenteppich, getrennt durch Wassergräben. Nun ist das Grundwasser zu niedrig - durch Trockenheit und Landwirtschaft, die Zersetzung des trockengelegten Moorbodens, Salz- und Gasgewinnung. Es ist vergleichbar mit den Bergschäden im Ruhrbergbau.
Versicherungen zahlen bei schiefem Fundament nicht mehr
Weil mittlerweile so viele Häuser ein schiefes Fundament haben und Bauschäden aufweisen, zahlen Versicherung für diese Art von Schaden nicht mehr. Fundamentsspezialist Joep Dingemans erklärt das Dilemma: "Es ist eine Frage der Verantwortung. Der Besitzer muss das Haus und das Fundament in Schuss halten - aber das Schwierige ist: Den Grundwasserspiegel kann man ja nicht selbst beeinflussen."
Um Abhilfe zu schaffen, will die Regierung jetzt ab Mitte 2021 ein neues Gütesiegel für Fundamente einführen, das Hausbesitzer im Falle eines Verkaufs vorweisen können müssen - ähnlich dem Energieausweis in Deutschland. Es soll möglichen Hauskäufern zeigen, welche Risiken unter den Immobilien lauern. "Bei Stufe Rot weiß man schon sicher, dass viel sehr Arbeit auf einen zukommt", sagt Ingenieur Dingemans. "Die meisten Häuser in den Niederlanden werden Stufe orange sein. Sie stehen noch sicher, aber sind mit großem Risiko behaftet."
Orange zeigt demnächst auch das Label von Edwin van der Heide. Sein Haus in Rotterdam ist gerade eine Großbaustelle. Dass etwas nicht stimmt, hat er daran gemerkt, dass sich die Türe nicht mehr schließen ließ. Dann klemmten sämtliche Fenster. Das machte ihn skeptisch. In seiner Straße stehen viele schiefe Häuser, deshalb ließ er Experten kommen. Tatsächlich zeigte die Analyse: Die Balken unter seinem Haus sind so morsch, dass das Haus in den vergangenen zehn Jahren sieben Zentimeter abgesunken ist.
Umzug in den Wohnwagen, wenn das Haus unbewohnbar wird
Der 50-Jährige entschloss sich zur Renovierung: Ein Bagger steht in einem großen schwarzen Loch und versucht, die morschen Balken frei zu legen. Eine Sanierungs-Spezialfirma verlangt etwa 2000 Euro pro Quadratmeter - in van der Heides Fall bedeutet das etwa 100.000 Euro Gesamtkosten. Um das Haus zu stabilisieren, müssen jetzt Betonpfeiler und eine neue Bodenplatte gegossen werden. Eine Art Betontisch, der das Haus künftig tragen soll. "Klar, das Konto ist leer. Aber ich bin sehr froh, dass ich das in ein paar Monaten hinter mir habe und ich nicht jahrelang mit Angst und Ungewissheit leben muss", sagt er.
Für Ellen und Pieter Dekker in Friesland kommen solche Sanierungsmaßnahmen zu spät. Täglich geht das Paar durch das Haus und misst mit einem Metermaß, ob sich Risse vergrößert oder verlängert haben. Sie haben den Traum von ihrem Bauernhof aufgegeben. "Experten haben uns gesagt, dass es innerhalb der kommenden drei bis fünf Jahre einstürzen wird", sagt Pieter Dekker resigniert. Auf einer Wiese vor dem Haus haben sie schon ein Fundament planiert. Sie werden in einen Wohnwagen ziehen, wenn das Haus unbewohnbar wird. Bis dahin nehmen sie jeden Tag ein kleines Stück Abschied von ihrem Traum. Der Kampf gegen das Wasser hat sie immer angetrieben, jetzt ist es der Kampf ums Wasser.
Mehr dazu sehen Sie am Sonntag, 15.11. um 19.20 Uhr im "Weltspiegel".
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