Hintergrund

60. Jahrestag der Befreiung Das präzedenzlose Verbrechen

Stand: 03.02.2005 11:37 Uhr

Auschwitz ist das Symbol für den systematischen Mord an den Juden Europas. Das größte deutsche Konzentrationslager ist Sinnbild für das Leid, das Menschen anderen Menschen zufügen können. Auschwitz steht für die Verbrechen der Deutschen und für den "Zivilisationsbruch" - dessen Möglichkeit jede Gesellschaft in sich trägt. Denn Auschwitz ist ein Produkt der Moderne - und ist so stetige Mahnung an jede Demokratie.

Auch Deutschland gedenkt am 27. Januar - dem Tag, an dem die Rote Armee das Lager befreite - der Opfern des Holocaust. Dieser allerdings begann weder in Auschwitz - noch endete er dort. Ein Überblick.

Von Jan Oltmanns, tagesschau.de

Als die Rote Armee am 27. Januar 1945 das Konzentrationslager Auschwitz erreichte, muss sich den russischen Soldaten ein grauenhaftes Bild geboten haben: Nur knapp 8000 Häftlinge in den drei Komplexen des größten deutschen Konzentrations- und Vernichtungslagers waren noch am Leben; die meisten von ihnen Elendsgestalten, die zu krank oder zu schwach für den Marsch in die Lager im Westen waren - fort von der näherrückenden Front. Ein Augenzeuge notiert: "Einige sitzen stur auf der Erde, nur auf Nahrungsmittel reagieren sie. Von Schmutz und Verwahrlosung kann man ihre Züge nicht erkennen. Es ist zu grauenhaft, man kann das nicht beschreiben. Und man kann nicht helfen".

Fast 60.000 Häftlinge waren nur wenige Tage vor dem Eintreffen der Russen zu Fuß auf die so genannten Todesmärsche in die eisige Kälte des polnischen Winters geschickt worden. Experten schätzen heute, dass jeder Vierte auf dem Weg in den Westen starb. Sie erfroren, verhungerten oder wurden erschossen, wenn sie nicht mithalten konnten. Diejenigen, die auch diese Tortur überlebten, wurden in die Lager Mittelbau-Dora, Buchenwald und Flossenbürg gepfercht. Dort ging das Morden weiter.

Für viele der Wenigen, die schließlich in Auschwitz befreit wurden, kam jede Hilfe zu spät. Sie starben an den Folgen von Erschöpfung, Hunger oder Krankheit. Der Großteil derer, die gerettet werden konnten, blieb bis an das Lebensende gebrochen. Der italienische Schriftsteller Primo Levi hat Auschwitz überlebt und in Essays und Berichten in eindrücklicher Art und Weise seine Erlebnisse geschildert. Zum Tag der Befreiung notiert er: "Die Nachricht rief in mir keine unmittelbare Bewegung hervor. Seit vielen Monaten kannte ich keinen Schmerz, keine Freunde und keine Angst mehr, es sei denn jener unbeteiligten, entfernten Art, die für das Lager charakteristisch ist und die man als konditional bezeichnen könnte. 'Hätte ich jetzt', so dachte ich 'mein Empfindungsvermögen von früher, dann wäre dies ein äußerst erregender Augenblick'." Levi beschreibt hier einen Gemütszustand, der viele Überlebende nie ganz loslassen sollte.

Umgang mit Auschwitz

Bei ihrem Vormarsch auf Berlin stießen West-Alliierte und Russen immer wieder auf Konzentrationslager. Mit den Soldaten kamen die Fotografen. Sie machten jene Bilder und Filme, die die Existenz und der Schrecken der Lager weltweit bekannt machten. Bilder und Lager bekamen nach dem Krieg auch die Deutschen zu sehen. Viele waren persönlich betroffen - gleichwohl blieb die öffenliche Aufarbeitung der Verbrechen zunächst aus. Erst 1958 begann die hiesige Justiz überhaupt mit der systematischen Verfolgung von NS-Kriegsverbrechern - und auch dies geschah nur halbherzig. Viele, die dem NS-Regime treu gedient hatten, kamen nach dem Krieg ohne größere Schwierigkeiten wieder in Amt und Würden. Folglich bescheinigt der Historiker Norbert Frei der jungen Bundesrepublik in den 50er Jahren eine "Phase der Milde" gegenüber den Tätern, in der der Nationalsozialismus "wie ein über Deutschland hereingebrochenes Fremdregime mit einer im Grunde geringen Zahl von 'Kollaborateuren' und einem Heer harmloser Mitläufer erschienen war".

Eine Zäsur in der öffentlichen Auseinandersetzung markierte der Frankfurter Auschwitz-Prozess. Ab 1963 wurde hier das Ausmaß der Verbrechen zum ersten Mal systematisch untersucht. Zeugen und Sachverständige führten der Öffentlichkeit die furchtbaren Details des Holocaust vor Augen, begleitet von großem nationalen und internationalen Medieninteresse. Zwar blieben die 22 Angeklagten bis zum Ende uneinsichtig und kamen mit vergleichsweise milden Strafen davon; die minutiöse Rekonstruktion der Ereignisse allerdings machte es für die Mehrheit der Deutschen unmöglich, die Verbrechen weiterhin zu ignorieren oder zu verharmlosen. Die Taten und die Verantwortung dafür ließen sich nicht länger hinter der Fassade einer jungen, aufstrebenden und geläuterten Demokratie verbergen. Auschwitz wurde so als "Todesfabrik" zum Symbol für den Mord an den europäischen Juden und zugleich zur Chiffre für den "Zivilisationsbruch", dessen Möglichkeit jede zivilisierte Gesellschaft in sich trägt. Auschwitz ist ein Produkt der Moderne - und damit auch stetige Mahnung: "Es geschah - und es kann wieder geschehen".

In den folgenden Jahrzehnten begann im Umgang mit der eigenen Geschichte eine Entwicklung, die bis heute nicht abgeschlossen ist. Zunächst forderten die 68er offensiv die öffentliche und private Auseinandersetzung mit den Verbrechen ein - zogen sich aber zugleich in revolutionäre, universale Erklärungsmodelle zurück. Auf staatlicher Ebene vollzog sich das, was Historiker heute die "Inkorporierung der Erinnerung" in das nationale Selbstverständnis genannt haben. Die Pflicht zur Erinnerung wurde zur Staatsräson - und damit zum politischen Akt. Die "Lehren aus Auschwitz" wurden seither oft als Argumentationshilfe bemüht, wenn es um Deutschlands Rolle in der Welt, um das nationale Selbstverständnis oder um die Frage von Krieg oder Frieden ging. Zuletzt begründete Außenminister Joschka Fischer 1999 während des Kosovo-Krieges mit dem Diktum "Nie wieder Auschwitz" Deutschlands Beteiligung am Militärschlag gegen das Milosevic-Regime in Serbien und Montenegro.

Kein gerader Weg nach Auschwitz

Die Symbolkraft des Lagers ist bis heute ungebrochen - und so erklärte der Bundestag den 27. Januar - den Tag der Befreiung von Auschwitz - zum nationalen Gedenktag. Dies war gewiss eine bedeutsame politische Geste, dennoch wurde vielfach kritisiert, der Holocaust lasse sich nicht auf ein Datum reduzieren. Dies war und ist eine politische Diskussion, doch Tatsache ist: Die Verbrechen begannen weder in Auschwitz - noch endeten sie dort.

In dem systematischen, industriellen Morden in Auschwitz-Birkenau, Treblinka, Sobibor, Chelmno, Belzec und Majdanek zeigte sich wohl das gesamte verbrecherische Potenzial Nazi-Deutschlands - die Lager und der Mord aber haben eine Geschichte: Die Besessenheit von "rassischer Reinheit", der Expansionswillen, die technischen Möglichkeiten zum Massenmord und nicht zuletzt ein in der Gesellschaft weit verbreiteter und fest verankerter Antisemitismus - auch wenn dieser am Anfang nicht die Vernichtung aller Juden in Europa zum Ziel gehabt haben mag - waren nur einige Voraussetzungen dafür. Hinzu kam eine ausführende Bürokratie, die, folgt man dem Soziologen Zygmunt Bauman, dank einer vielschichtigen Arbeitsteilung die moralische Distanz zu ihrem Tun wahren konnte. Schließlich spielte der Krieg selbst eine bedeutende Rolle. Nach Einschätzung des Historikers Götz Aly beförderte er "eine Atmosphäre des Nicht-Öffentlichen, er atomisierte die Menschen, zerstörte ihre noch vorhandenen Bindungen an religiöse und juridische Traditionen". Es entstand, so Aly, eine Situation, die in der Sprache der Täter eine "einmalige Gelegenheit" genannt wurde.

Dem massenhaften Mord ging eine stetig fortschreitende Entrechtung jüdischer Menschen, aber auch anderer Gruppen, in den Jahren vor Kriegsbeginn voraus: Die systematische Verbannung der Juden aus dem öffentlichen Leben, die Stigmatisierung durch den öffentlich zu tragenden Judenstern, die Reichspogromnacht, der Euthanasie-Mord an tausenden behinderten Menschen und die Errichtung der großen Ghettos markieren einige dieser Stationen. Nicht zu vergessen sind ebenso die Probleme der Weimarer Republik. Ohne die Krisen der jungen und instabilen Demokratie ist Nazi-Deutschland nicht zu denken.

Gleichwohl wäre es verfehlt, von einem "geraden Weg nach Auschwitz" zu sprechen. Bis in die 90er Jahre hinein waren sich die Historiker nicht einig, ob der Holocaust das Resultat rationaler Planung der NS-Führung oder einer "kumulativen Radikalisierung" sei. Heute neigt man zum entschiedenen sowohl als auch. Ein sich "radikalisierender Prozess der Brutalisierung" war direkt verbunden mit "vielfältigen Formen individueller und ideologischer Ziele", resümiert etwa der Historiker Ulrich Herbert.

"Ganz normale Männer"

Ebensowenig wie der Holocaust in Auschwitz begann, endete er mit der Befreiung des Lagers. Bis zum Ende des Krieges ging das Morden weiter. Noch im April etwa wurden 7000 bis 8000 Häftlinge im KZ Buchenwald ermordet. Selbst für die letzten Kriegstagen sind Gewaltexzesse an Juden dokumentiert. Zwar war Auschwitz das größte deutsche Konzentrationslager, jedoch nicht das einzige: Deutschland und die annektierten Gebiete waren von einem dichten Lager-Netz überzogen. Die geheimen "Todesfabriken", in denen Häftlinge im Akkord in die Gaskammern getrieben wurden, standen weit im Osten. Konzentrationslager aber gab es auch im Herzen Deutschlands: in Buchenwald bei Weimar, in Neuengamme nahe Hamburg, in Sachsenhausen unweit von Berlin und im nur wenige Kilometer von München entfernten Dachau. Flossenbürg, Mittelbau-Dora, Mauthausen, Ravensbrück, Bergen-Belsen und viele andere mehr. All diese Namen stehen - ebenso wie Auschwitz - für die Verbrechen der Nazis.

Die Zahl derjenigen, die den Mord von Angesicht zu Angesicht - in Wachmannschaften, Einsatzgruppen und Polizeibataillonen - verübte oder am Schreibtisch mitorganisierte, dürfte in die Hunderttausende gehen. Trotz ihrer hohen Zahl aber blieben die Täter für lange Zeit merkwürdig gesichtslos. Oft wurden sie entweder als "Bestien in Menschengestalt" dämonisiert oder aber ihre Taten auf einen angeblichen - inzwischen vielfach widerlegten - Befehlsnotstand zurückgeführt. Erst vor wenigen Jahren hat die Holocaust-Forschung die Täter entdeckt und befasst sich seitdem in umfangreichen Studien mit verschiedenen Täter-Gruppen und dem Millieu, aus dem sie stammten. Der Befund der Wissenschaftler offenbart eines der beunruhigendsten und verstörendsten Erkenntnisse über den Holocaust: Oft waren die Täter keineswegs eiskalte Killer, sondern "ganz normale Männer", wie etwa der Historiker Christopher Browning schließt. Sie waren keine Monster, sie waren Menschen aus der Mitte der Gesellschaft.

Lesen Sie hier den zweiten Teil:Versuche, den Völkermord zu relativieren