Interview

Interview "EU verspielt Glaubwürdigkeit in Flüchtlingsfragen"

Stand: 27.08.2007 11:44 Uhr

Die Organisation Pro Asyl hat seit Jahren ein einheitliches europäisches Asylrecht gefordert. Im Interview mit tagesschau.de übt Europa-Referent Karl Kopp jedoch massive Kritik an den Verhandlungen der EU-Innenminister. Zugleich nennt er Gründe, warum immer weniger Menschen versuchen, nach Europa einzuwandern. Das Interview wurde vor der Einigung der Innenminister auf so genannte sichere Drittstaaten geführt.

tagesschau.de: Herr Kopp, rund 290.000 Menschen haben im vergangenen Jahr laut UN-Statistik einen Asylantrag in Europa gestellt. Gleichzeitig gibt es Schätzungen, dass jährlich etwa 500.000 Menschen illegal nach Europa einreisen. Wie bewerten Sie diese Entwicklung?

Kopp: Die Asylzahlen in der EU und auch in den zehn Beitrittsländern sind mittlerweile im freien Fall. In den 15 alten EU-Staaten haben wir in den vergangenen zehn Jahren eine Halbierung der Asylgesuche festgestellt. Das hat mehrere Gründe. Zum einen wird es immer schwieriger, überhaupt noch den Weg nach Europa zu finden. Die Abschreckung aufgrund der restriktiven Asylgesetze scheint zu groß zu sein. Zahlen des UN-Flüchtlingshilfswerks UNHCR sprechen für diese Vermutung: Momentan gibt es weltweit knapp zwölf Millionen Flüchtlinge, die außerhalb ihres Herkunftslandes leben. 20 bis 25 Millionen Menschen sind jedoch so genannte Binnenvertriebene, die in ihrem Herkunftsland bleiben.

Zum anderen wird die Flucht immer teurer: Es gibt keinen Zugang in die EU ohne kommerzielle Fluchthilfe. Ohne Fluchthelfer, also Schlepper und Schleuser, geht fast gar nichts mehr. Und es gibt immer mehr Tote an den Außengrenzen: Allein in den letzten zwei Jahren mindestens 1000 Menschen, deren Tod dokumentiert wurde. Die Dunkelziffer dürfte erheblich höher sein.

tagesschau.de: Welche Routen benutzen die Menschen, die nach Europa kommen wollen?

Kopp: Viele versuchen es über Osteuropa: Der Balkan ist wieder frei. Während und nach dem Krieg war dieser Weg jahrelang versperrt. Eine Hauptfluchtroute ist auch der Weg über die Ägäis in die Adria, also über die Türkei und Griechenland. Es gab in den letzten Jahren auch die Route Tunesien-Libyen-Italien – unzählige Menschen sind auf dieser Strecke ums Leben gekommen. Dasselbe gilt für den Weg zwischen Marokko und Spanien. Diese Route ist mittlerweile kaum noch durchlässig. Die Meeresenge von Gibraltar ist mit modernster Radar-Technik, bezahlt von EU-Geldern, dicht gemacht. Auf diesen 13 Kilometern Wasserweg kamen schätzungsweise in den letzten Jahren bis zu 5000 Menschen ums Leben.

Da dieser Weg versperrt ist, versuchen viele Menschen, über die Kanarischen Inseln nach Europa zu gelangen. Sie umfahren die Kontrollen, was fatale Konsequenzen hat: Die Wege werden weiter und gefährlicher, regelmäßig werden Flüchtlinsgleichen an die Strände der Kanaren gespült.

tagesschau.de: Warum kommen die Menschen nach Europa?

Kopp: Der große Teil der Asylsuchenden kommt aus Kriegs- und Krisengebieten, wo massive Menschenrechtsverletzungen stattfinden: Irak, Afghanistan, dem Kosovo, aus dem ehemaligen Jugoslawien, aus Somalia und inzwischen verstärkt aus Tschetschenien.

tagesschau.de: Welche Erwartungen stellen die Daheim Gebliebenen an ihre Angehörigen in Europa?

Kopp: Familien investieren Summen in Schlepper- und Schleuserbanden. Insofern ist es ganz klar, dass die Menschen, die es nach Europa geschafft haben, egal, ob legal oder illegal, zum Teil eine ganze Reihe von Angehörigen in ihrem Heimatland finanziell unterstützen. Es gibt Untersuchungen, wonach der Geldtransfer von Einzelpersonen aus Europa in die Herkunftsländer viel höher ist als die staatliche Entwicklungshilfe. Von daher ist die Erwartung der daheim Gebliebenen groß, dass jemand durchkommt und auch Verantwortung für die Angehörigen in der Herkunftsregion übernimmt.

Das Interview führte Susanne Ofterdinger

Lesen Sie im zweiten Teil: Welche Fortschritte haben die EU-Minister erzielt? Welche Kritikpunkte gibt es? Was fordert Pro Asyl?