Interview

Geiselnahme in Beslan Polizeipsychologe: "Kinder sind besonders hilflos"

Stand: 27.08.2007 10:29 Uhr

Kinder erleben nach Einschätzung des Polizeipsychologen Adolf Gallwitz eine Geiselnahme extremer als Erwachsene, weil sie die Folgen nicht abschätzen können. Zugleich schützt sie ihre Unkenntnis aber auch. Mit Blick auf das Geiseldrama in Beslan sagt Gallwitz im Gespräch mit tagesschau.de: Die Überlebenden werden für lange Zeit traumatisiert sein.

tagesschau.de: Hunderte Kinder und Erwachsene in der Hand von Geiselnehmern – lässt sich überhaupt ermessen, wie groß die Angst, wie groß die Belastung für sie ist?

Adolf Gallwitz: Bei Massengeiselnahmen stecken sich die Betroffenen erfahrungsgemäß gegenseitig mit ihrer Angst und Hilfslosigkeit an. Menschliche Dramen spielen sich auf hundertfache Weise ab. Für die Geiselnehmer ist es schwierig, die vielen Geiseln unter Kontrolle zu halten. Die Stressbelastung vervielfacht sich extrem, wenn man in so einer Konstellation mit vielen hundert Menschen und einem ungewissen Ausgang gefangen gehalten wird.

tagesschau.de: Wie verhalten sich Geiseln in so einer lebensbedohenden Situation - lassen sich typische Prozesse beschreiben?

Gallwitz: Man kann Geiseln in bestimmte Typen einteilen. Es gibt Geiseln, die apathisch werden. Der enorme Stress und die Hilflosigkeit führen dazu, dass sie nicht mehr reagieren und ihre Umgebung nicht mehr richtig wahrnehmen können. Andere Geiseln versuchen aufzufallen und auf die Weise die Wahrscheinlichkeit ihres Überlebens zu erhöhen. Sie versuchen zu agieren, machen manchmal aber auch das Falsche und fallen den Geiselnehmern auf diese Weise womöglich auf die Nerven. Manche Geiseln wollen ihr Überleben sichern, indem sie versuchen, eine positive Beziehung zu den Geiselnehmern aufbauen. Sie versuchen, hilfreich zu sein, damit die Geiselnehmer sie für eine wichtige Geisel halten und sie deshalb schonen.

tagesschau.de: Erleben Kinder eine solche Situation extremer als Erwachsene?

Gallwitz: Es kommt immer auf das Alter der Kinder an. Kinder sind besonders hilflos, weil sie noch weniger als Erwachsene abschätzen können, was gerade passiert, was möglicherweise noch passieren kann. Sie machen sich ganz andere Gedanken und sind mehr ausgeliefert. Andererseits können sich gerade junge Kinder kaum ein Bild über die vergangenen Jahre machen und deshalb auch nicht wissen, wie solche Geiselnahmen ausgegangen sind. Kinder in der ersten Klasse denken in der Regel nicht, dass sie möglicherweise dem Tod ins Auge sehen.

tagesschau.de: Man kann nicht erwarten, dass Geiseln sich rational verhalten, aber was wäre das Vernünftigste in einer solchen Situation?

Gallwitz: Grundsätzlich ist es für Geiseln wichtig, in einer unauffälligen Menge als eine unauffällige Nummer zu verschwinden, sich nicht in den Vordergrund zu drängen. Sie sollten mit den eigenen Gefühlen vorsichtig sein, nicht zu stark in Erregung verfallen, die Täter nicht provozieren. Sie sollten auch nicht fliehen oder Aktivitäten entwickeln, die das eigene Leben gefährden. Wichtig wäre, sich selbst zu beruhigen, so weit das möglich ist. Es ist aber ein Albtraum, den man sich mental nicht vorstellen kann. Deshalb ist es schwierig, stichwortartig Empfehlungen zu geben

tagesschau.de: Auch die Geiselnehmer stehen unter einer enormen Anspannung. Wie kann man von außen auf sie einwirken?

Gallwitz: Wir wissen, dass Geiselnehmer verschiedene Phasen durchlaufen. Das hängt davon ab, wie lange die Geiselnahme schon dauert, wie stark der Schlafentzug ist. Ein anderer Faktor ist, wie die Geiselnehmer untereinander organisiert sind, wie sie sich verstehen. Ferner spielt eine Rolle, wie die Geiselnahme bislang verlaufen ist, welche "Erfolge" und "Rückschläge" es aus Sicht der Geiselnehmer gibt. Der Zustand der Geiselnehmer ändert sich also von Phase zu Phase, und darauf müssen die Sicherheitskräfte jeweils eingehen. Es ist sehr viel Geduld und Einfühlungsvermögen erforderlich.

tagesschau.de: Was ist nach dem Ende eines Geiseldramas wichtig – vor allem für die Kinder?

Gallwitz: Wichtig ist ein umgehendes, so genanntes "de-briefing" erforderlich, also eine aktue Verarbeitung der Belastungen, damit es nicht zu langfristigen, post-traumatischen Belastungsstörungen kommt. Man muss aber damit rechnen, dass alle Überlebenden für lange Zeit traumatisiert sein werden.

Adolf Gallwitz ist Professer für Psychologie und Soziologie an der Hochschule für Polizei Villingen-Schwenningen. Das Gespräch führte Eckart Aretz, tagesschau.de