Interview zu Tschetschenien "Der Terror wird weitergehen"

Stand: 27.08.2007 09:40 Uhr

Das Geiseldrama von Beslan hat den in Vergessenheit geratenen Tschetschenien-Konflikt wieder in den Fokus der Weltöffentlichkeit gerückt. tagesschau.de sprach mit der tschetschenischen Menschenrechtlerin Lipkan Basajewa über die schwierige Lage des Landes im Schatten des Terrors.

tagesschau.de: Was empfindet die tschetschenische Bevölkerung nach dem Geiseldrama von Beslan?

Lipkan Basajewa: Die Menschen in Tschetschenien sind entsetzt und fühlen sehr mit den Menschen in Beslan. Der Grund dafür ist einfach: Die Tschetschenen haben ähnliche Erfahrungen gemacht. Sie haben auch sehr viel Leid erfahren müssen. Die Attentäter und Geiselnehmer werden von ihnen auf das Schärfste verurteilt.

tagesschau.de: Noch immer ist nicht klar, wer hinter dem Geiseldrama steckt. Die russische Führung hat versucht, die tschetschenischen Attentäter als Teil des internationalen Terrornetzwerkes darzustellen. Wie eng ist das Netzwerk der extremen Islamisten in dieser Region?

Basajewa: Dieser Punkt macht uns sehr große Sorgen. Zum einen sieht die tschetschenische Bevölkerung in Russland einen Gegner. Genauso aber sind extreme Islamisten gefährlich für die tschetschenischen Interessen. Zwar fürchten die Tschetschenen eine Radikalisierung durch islamistische Gruppierungen. Leider ist jedoch unsere Gesellschaft so weit gespalten – weil sie seit Jahrzehnten gekränkt und gedemütigt ist -, dass diese Menschen durchaus Einfluss auf Teile der Bevölkerung gewinnen könnten. Deshalb müssen wir nun dringend Verhandlungen mit Russland führen.

tagesschau.de: Aber der russische Präsident hat offensichtlich kein Interesse an Verhandlungen.

Basajewa: Putin ist nur dank dieses Krieges an der Macht und der Krieg hält ihn auch an der Macht. Deswegen möchte er den Konflikt nicht beenden.

tagesschau.de: Kritiker glauben, dass auch ein unabhängiges Tschetschenien keinen Frieden findet. Was denken Sie über die Spirale der Gewalt in Ihrem Land?

Basajewa: Die Entwicklung der letzten Jahre hat es gezeigt: Selbst wenn Tschetschenien morgen unabhängig würde, wäre es kein ruhiger, friedlicher Ort. Wir müssten das Land noch sehr lange unter den Schutz internationaler Organisationen stellen, weil nur dadurch die Gewalt vermindert werden könnte. Dann erst könnte ein neuer Staat aufgebaut werden.

Wir hatten ja bereits in den neunziger Jahren einen großen Grad an Unabhängigkeit. Diese Phase hat gezeigt, dass dann neue große Probleme auf die Tschetschenen zukommen. Die können nur mit einem Friedensplan für das Land gelöst werden, der den zukünftigen Status Tschetscheniens festlegt. Darüber muss verhandelt werden.

tagesschau.de: Wie reif ist Tschetschenien dafür? Was kann man beispielsweise gegen die mafiösen Clanstrukturen in Tschetschenien tun?

Basajewa: Neben diesen Clanstrukturen gibt es auch eine Zivilgesellschaft, die durchaus Einfluss hat. Es wäre kein Problem, geeignete Persönlichkeiten zu finden, die von der Gesellschaft akzeptiert würden und die fähig sind, Verhandlungen zu führen und Strukturen aufzubauen.

tagesschau.de: Es gibt viele radikale Gruppierungen in Tschetschenien. Traurige Berühmtheit haben die „schwarzen Witwen“ - tschetschenische Selbstmordattentäterinnen - erreicht. Was denken deren Mütter?

Basajewa: Die Mütter in Tschetschenien fühlen sich moralisch gedemütigt durch solche Verbrechen. Es ist ihnen peinlich, sie schämen sich, vielleicht auch weil sie sich in Teilen verantwortlich fühlen.

tagesschau.de: Beslan hat gezeigt, dass der Konflikt sich auf die benachbarten Teilrepubliken ausdehnt. Wie ist ihre Prognose?

Basajewa: Der entsetzliche Anschlag von Beslan wird nicht der letzte sein. Der Terror wird weitergehen, solange die russische Führung nicht bereit ist, den Krieg zu beenden. Wenn es keinen Kompromiss geben sollte, wird sich ganz Russland in Geiselhaft befinden.

Das Interview führte Judith Hinrichs, tagesschau.de

Lipkan Basajewa wurde 1949 in Kasachstan geboren. Als Achtjährige kehrte sie nach Tschetschenien zurück. Lange lebte sie dort, bevor sie flüchten musste. Basajewa arbeitet für die russische Menschenrechtsorganisation Memorial.