Novosybkov: 20 Jahre nach dem Super-GAU Zu Besuch in Russlands meistverstrahlter Stadt

Stand: 25.08.2007 16:48 Uhr

An der weißrussisch-russischen Grenze, im Briansker Oblast, liegt die Stadt Novosybkov. Nach der Katastrophe von Tschernobyl hat einen traurigen Rekord erlangt: Sie ist die am schlimmsten verstrahlte Stadt der russischen Föderation.

Von Horst Kläuser, ARD-Hörfunkstudio Moskau.

Es war nie schön hier. 45.000 Menschen leben heute in der grauen Stadt. Es waren mal 60.000 – vor Tschernobyl. Und für den, der es nicht kennt, kann das Leben hier nur freudlos sein. Die Lenin-Statue schaut auf den überdimensionierten Platz vor dem Rathaus. Die Neonreklamen der wenigen Läden rosten und hängen an Kabeln von der Hauswand. Arbeit gab es im längst geschlossenen Textilkombinat und auch auf den vielen Kolchosen der Umgebung. Die Dächer der Traktorenhallen und Ställe sind eingestürzt und vermoost, rostige Stahlträger weisen bizarr in den trüben Himmel über den Ackerböden, die einmal zu den vielleicht fruchtbarsten Europas gehörten. Hier baut aber niemand etwas an, hier grast kein Vieh. Das Land ist tot, Birken wuchern, wo früher Furchen waren, hüfthohes Gebüsch bedeckt die ehemaligen Getreidefelder.

Die Wege führen ins Nichts, nach vier Kilometern kommt die weißrussische Grenze. Eine trostlose grüne Grenze, über die sich klappernd und qualmend alte LKW mühen, die die letzten verwertbaren Steine aus den Dörfern, die es nicht mehr gibt, abschleppen. In den Resten einer Siedlung lebt noch die 79-jährige Anastasia, eine von zwölf Menschen, die im alten Blockhaus ausharren – 350 lebten mal hier, bis die Strahlen kamen. „Der Boden ist schlecht geworden“, erzählt Anastasia. „Nichts wächst hier. Die Menschen sind ständig krank. Alle Kinder sind krank. Die Beine tun weh, der Kopf tut weh, der Blutdruck ist hoch. Früher wussten wir gar nicht, was Hochdruck ist. Nach der Tschernobyl-Katastrophe sind alle meine Kinder krank geworden

Die Zeit ist stehen geblieben

Durch die halb verfallenen Wände des Nachbarhauses mit den leeren Fensterlöchern pfeift der Wind. Trümmerblumen sprießen dort, wo früher ein Sofa oder eine Schulbank stand. Die Zeit blieb auch hier im April 1986 stehen. Novosybkov, die am meisten von der Tschernobyl-Katastrophe betroffene Stadt Russlands, stirbt einen langen, lautlosen Tod. Die Ingenieure, die Techniker, die jungen Ärzte, die Verkäuferinnen, die Familie haben und Karriere machen wollten – alle sind längst weg. Geblieben sind die Alten.

„Unser Leben hat sich stark geändert. Früher erholten wir uns aktiv auf dem Lande. Im Sommer konnten wir überall hin, um uns zu erholen, in den Wald oder an den Fluss. Mein Mann Pawel ist ein leidenschaftlicher Pilz- und Beerensammler. Heute aber müssen wir uns Gedanken darüber machen, wo wir mit unseren Kindern hinfahren sollen - und das ist schrecklich!“, sagt Swetlana Wdowitschenko. In Novosybkov heiratete sie Pawel und bekam ihren Sohn Anton. Man lebte nicht schlecht, bis am 26. April 1986, 120 Kilometer entfernt, das Atomkraftwerk in die Luft flog.

„Die Folgen sind erst heute wirklich absehbar“

Der damalige Chef des Gesundheitsamts, Dr. Josif Kaplun, erfuhr von Physikstudenten, die rein zufällig im Examen mit Geigerzählern hantierten, dass es ungewöhnliche, hohe radioaktive Strahlungen gab. Was zu tun war, wusste niemand, keiner hatte einen Plan. Und Moskau schwieg. „Wir wollten, dass die Kinder nicht auf die Straße gingen, wurden aber darin nicht unterstützt“, erinnert sich Kaplun. „Mindestens einige Tage nach der Explosion hätten die Menschen ihre Häuser gar nicht verlassen dürfen. Und natürlich sollten die Menschen Kalium und Jod einnehmen, um ihre Schilddrüse zu schützen.“ Das aber gab es entweder gar nicht oder viel zu spät und dann in zu niedriger Dosierung. Die Folgen sind erst heute wirklich absehbar, weil es oft mehr als 15 oder 20 Jahre dauert, bis eine Strahlenkrankheit ausbricht. Doch noch am 1. Mai 1986 gab es die traditionelle Parade, machten die Menschen Picknick im Wald. Keiner wusste, was dort drohte – das wird erst heute klar. „Die Zahl der Erkrankungen bei Menschen aus den betroffenen Gebieten ist im Vergleich zur Bevölkerungen anderer Gebiete um mehr als das zweifache höher. Zugenommen haben die Krebserkrankungen, besonders die der Schilddrüse“, so Kaplan.

Hilfe aus Deutschland für behinderte Kinder

Wer trotz der unsichtbaren Gefahr in Novosybkov geblieben ist, macht entweder die Augen zu oder hilft. Wie Pawel Wdowitschenko, der seit 14 Jahren mit der Solinger Bürgerinitiative Pro Ost behinderten Kindern eine Chance gibt.

„Die Organisation kann zum Beispiel für andere Organisationen Russlands werden. Mit unserer Tätigkeit zeigen wir, dass eine kleine Gruppe einfallsreicher und aktiver Menschen in einer kleinen Stadt das Leben wesentlich beeinflussen kann“, erzählt er. Warum hilft ausgerechnet Solingen? Wohl niemand kannte vor 20 Jahren im Bergischen Land die Stadt Novosybkov. Umgekehrt hatten vielleicht nur die reichsten in dieser provinziellen Kleinstadt ganz im Westen Russlands mal ein Messer oder eine Schere aus der Klingenstadt in der Hand.

Jörg Püttbach ist weder Arzt noch Russlandkenner – allein das Elend der Menschen in der Ukraine, Weißrussland und Russland trieb den jungen Unternehmer und seine Freunde an, etwas zu tun. Doch wie? Schreiben an die russische Botschaft blieben zunächst unbeantwortet. Eine kleine Organisation in Novosybkov reagierte, wie er berichtet: „Pro Ost und die Arbeit hier in Russland ist für uns alle, die wir bei Pro Ost arbeiten, irgendwie Lebensinhalt geworden. Und es ist kein Projekt, das irgendwie zeitlich befristet ist, sondern wir engagieren uns hier langfristig. In Novosybkov und in Russland gibt es, glaube ich, viele Jahre lang auf dem sozialen Sektor noch was zu tun.“

Den ersten Lkw-Transporten mit Medikamenten und Möbeln folgten - wie so oft in den ersten Jahren nach der Katastrophe - Einladungen an die Kinder aus der Tschernobyl-Zone. Gut gemeint, aber wie man heute weiß, nicht sehr hilfreich.

Gesundheitszentrum mit Hilfe von Spenden errichtet

„Das ist ein einmaliger Effekt für die Kinder, der umstritten ist, auch vom pädagogischen Hintergrund her. Die Kosten sind hoch. Unser Ziel war es, im Land, vor Ort etwas aufzubauen, so dass wir bei den Kindern aus der Tschernobyl-Region ein Ferienlager aufgebaut haben, auf unverstrahltem Gebiet, 80 Kilometer von Novosybkov entfernt. Wir versuchen in dem dortigen Ferienlager den Kindern einen unvergesslichen Urlaub zu bieten, der den, den sie in Deutschland oder in Westeuropa hätten, noch überbietet“, so Püttbach.

Heute, 1,2 Millionen Euro an Sachspenden und über eine halbe Million an Geldspenden später, ist aus den bescheidenen Anfängen ein kleines Gesundheitszentrum geworden. Es schließt die Lücken, die der russische Staat in seinem Gesundheitssystem zulässt.

95 Prozent der Bewohner immer noch nicht untersucht

20 Kinder mit geistigen und körperlichen Behinderungen werden vorbildlich und liebevoll betreut. Im Nebenraum behandeln Ärztinnen gelähmte Kinder mit den Methoden von Voita und Bobath – die einzige Anwendung dieser Therapie in ganz Russland. Zwei Ärzte untersuchen Tag für Tag zahlreiche Patienten mit einem hochmodernen gespendeten Ultraschallgerät, um Schilddrüsenerkrankungen zu erkennen. Ein solches Gerät, wie im Heim "Radimichi", hat die ganze Stadt Novosybkov und der umliegende Kreis nicht zu bieten. Eigentlich sollte, laut Gesetz von 1995, jeder Einwohner der Zone zwei einmal im Jahr mit Ultraschall untersucht werden. De facto waren 95 Prozent der Bevölkerung noch nie da.

Pawel Wdowitschenko ist stolz auf die Zusammenarbeit seiner kleinen, verstrahlten Stadt mit den Freunden im Westen: „Und unsere Partnerschaft ist wie ein großer Mann mit zwei Händen. Eine deutsche Hand und die zweite, russische Hand. Diese zwei Hände mit einem Herz, mit einem Kopf, arbeiten seit 14 Jahren und darum haben wir eine sehr schöne Zukunft.“