Demokratiedefizit in Brüssel? Die Angst vor dem Superstaat

Stand: 25.08.2007 15:52 Uhr

Die Furcht vor einem undemokratischen EU-Superstaat, den niemand kontrollieren kann, ist für die Niederländer einer der Hauptgründe gewesen, gegen die EU-Verfassung zu stimmen. Auch in Deutschland teilen viele dieses Unbehagen. Ist das Misstrauen berechtigt?

Von Sabine Klein, tagesschau.de

Die Angst vor einem undemokratischen, unkontrollierbaren europäischen Superstaat ist eines der Hauptargumente gegen Europa. Vielen Bürgern ist der Gedanke nicht geheuer, nationale Souveränitätsrechte nach "Brüssel" abzugeben, wo ihrer Meinung nach eine ausufernde Bürokratie auf undurchschaubaren Wegen Entscheidungen trifft, die jeglicher demokratischer Kontrolle entzogen sind. Was ist dran an diesen Vorwürfen?

Volksvertretung mit zu wenig Rechten

Um ihnen auf den Grund zu gehen, hilft ein Vergleich zwischen den Rechten des Deutschen Bundestages und des Europäischen Parlaments. Der vom Volk frei gewählte Bundestag ist das Herz der bundesdeutschen Demokratie. Gemäß der klassischen Gewaltenteilung hat der Bundestag die beiden demokratischen Kernrechte, Gesetze vorzulegen und zu verabschieden, sowie die Regierung zu kontrollieren. Im europäischen Parlament, das von allen wahlberechtigten Bürgern Europas frei gewählt wird, sieht das hingegen ganz anders aus.

Das EU-Parlament hat in beiden genannten Bereichen nur sehr eingeschränkte Kompetenzen. Im Gegensatz zum Bundestag hat es nicht das Recht, Gesetze vorzulegen. Und: Viele EU-Gesetze müssen noch nicht einmal vom Parlament abgesegnet werden. Die Zustimmung der europäische Volksvertretung ist bisher bei ungefähr 70 Prozent aller Gesetze notwendig. Würde die EU-Verfassung in ihrer jetzigen Gestalt angenommen, müsste die Zustimmung des Parlaments immerhin bei über 80 Prozent der Gesetze eingeholt werden. Entscheidungen, die die gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik angehen, würden aber auch weiterhin außen vor bleiben.

Wichtige Personalfragen entscheiden andere

Der Bundestag wählt den Bundeskanzler und dieser ernennt die Regierung. Das EU-Parlament hat hingegen nicht das Recht, den Präsidenten der Kommission zu wählen – der wird von den Nationalstaaten eingesetzt. Die Nationalstaaten entscheiden auch, wen sie als Kommissar zur EU-Kommission (eine Art Regierung der EU) nach Brüssel schicken. Das Parlament kommt erst wieder ins Spiel, wenn die Kommission bereits fertig geformt ist. Denn das Parlament hat immerhin das Recht, die Kommission abzulehnen, was es im vergangenen Jahr im Falle der Barroso-Kommission auch getan hat.

Würde die Verfassung in Kraft treten, bekäme das Parlament das Recht, den Kommissionspräsidenten zu wählen. Zwar würde die Person immer noch vom Europäischen Rat vorgeschlagen werden. Das Gremium müsste aber auf die Mehrheitsverhältnisse im Parlament Rücksicht nehmen. Diese Änderung ist dem Europa-Abgeordneten Martin Schulz sehr wichtig. "Die Bürger haben dann bei der Europa-Wahl endlich direkten Einfluss", sagte er im Interview mit tagesschau.de. "Wenn ich einen sozialdemokratischen Kommissionspräsidenten haben will, wähle ich die SPD in Deutschland oder die Labour-Party in England."

Budgetrecht eingeschränkt

Eine der wichtigsten Aufgaben des Bundestages ist es, über den Haushalt abzustimmen, den die Regierung vorschlägt. Auch dieses Recht ist beim EU-Parlament eingeschränkt. Es muss zwar dem EU-Haushalt zustimmen, davon ausgenommen ist aber das Agrarbudget. Es macht 42,6 Prozent, also fast die Hälfte, des gesamten Haushalts aus.

Im Ergebnis kann man also sagen, dass die einzige, von den EU-Bürgern direkt gewählte Einrichtung, das EU-Parlament, nicht annähernd die Macht hat, die einer Volksvertretung zukommen sollte. Im tagesschau.de-Interview bringt der CSU-Politiker Gerd Müller die Entparlamentarisierung der europäischen Gesetzgebung auf den Punkt: "Auf der einen Seite ist der Bundestag nicht mehr als Gesetzgeber tätig, hat auch keine ausreichenden Kontrollmöglichkeiten. Und auf der anderen Seite kommt das Recht zur Gesetzgebung nicht beim europäischen Parlament an." Der Vorwurf, die EU habe ein Demokratiedefizit und sei vom Parlament nur eingeschränkt zu kontrollieren, ist insofern berechtigt.

Nationalstaaten Schuld am Demokratiedefizit

Doch wie kann man Europa demokratischer und kontrollierbarer machen? Die Antwort ist vergleichsweise einfach: Das EU-Parlament müsste endlich die vollen demokratischen Rechte einer Volksvertretung bekommen. Doch das geht nur, wenn die Nationalstaaten viel mehr Kompetenzen an Europa abgeben, als sie es bisher tun. Die Tatsache, dass die Zustimmung des EU-Parlaments nur bei 70 Prozent aller Gesetze notwendig ist, ist dem Umstand geschuldet, dass sich die Nationalstaaten vom EU-Parlament möglichst wenig in ihre Entscheidungen hineinreden lassen wollen. Denn die wirklichen Entscheidungen trifft die EU im Rat der Staats- und Regierungschefs und in den Ministerräten - und da haben allein die Nationalstaaten das Sagen.

Deshalb werden die Gesetze auch von den Ministerräten beschlossen und von der Kommission ausgearbeitet - nicht etwa vom EU-Parlament. Ähnlich ist es bei den wichtigen Personalentscheidungen. Das Amt des Kommissionspräsidenten ist wichtig, zu wichtig, als dass es dem EU-Parlament überlassen werden könnte. Oder die Außen- und Sicherheitspolitik: Selbst wenn die Verfassung angenommen würde, behalten sich die Einzelstaaten hier das alleinige Entscheidungsrecht vor.

Unvereinbare Forderungen

Die Situation ist also paradox: Die Bürger haben Angst vor einem undemokratischen Superstaat Europa und wollen deshalb möglichst wenig Rechte an die EU abgeben. Doch Europa hätte nur eine Chance auf wirkliche Demokratisierung, wenn eben dies geschähe: wenn man das demokratisch gewählte Europäische Parlament mit allen notwendigen Kontrollrechten gegenüber der Kommission und den nationalstaatlich geprägten Gremien (EU-Rat, Ministerräte) ausstatten würde. Die Regierungen der Einzelstaaten haben wenig Interesse daran, ihre Bürger über dieses Paradox aufzuklären, denn sie definieren es als ihr Interesse, in allen wichtigen Politikbereichen voll handlungsfähig zu bleiben.

Fazit: Europa hat ein Demokratiedefizit. Dies hat aber zunächst nicht so sehr viel mit "Brüssel" zu tun, sondern mit den Nationalstaaten. Entgegen der Ansicht vieler Bürger kann man dieses Defizit nur beseitigen, wenn die Nationalstaaten sehr viel mehr und nicht etwa weniger Kompetenzen an die EU abgeben.

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